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Achtung! Intox!
Desinformationen über Lehrer/innen und den Lehrberuf. Das ABC der Vorurteile und das Einmaleins der Aufklärung darüber

 

>> Amok, Schule, Gesellschaft… Aus leider aktuellem Anlass.

 

 

 

Wolfgang Geiger

 

PISA oder das Ende der (nicht nur linken) Bildungsutopie

 

© 2002/2004

by the author and Kommune

 

Erschienen in: Kommune 5/2002, S.39-42.

 

Leicht überarbeitete Fassung gegenüber der damaligen Veröffentlichung.

 

 

 

 

1. Bildung und gesellschaftlicher Bedarf

Der „umfassendste und weitreichendste Leistungsvergleich der Bildungsgeschichte“ (so die Selbstdarstellung) auf internationaler Ebene hat in den letzten Monaten für viel Aufregung in Deutschland gesorgt. Die von der OECD über ihren Geltungsbereich hinaus organisierte PISA-Studie, in Deutschland ergänzt durch einen analogen internen Vergleich zwischen den Bundesländern (dessen Ergebnisse zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht bekannt waren), untersuchte Lesefähigkeit, mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung von 15-Jährigen durch anwendungsorientierte, also lehrplanunabhängige Prüfungsaufgaben, deren Schwerpunkt auf logischem Denken, selbständigem Reflektieren und vor allem auf der Lesekompetenz (literacy) lagen – letztere war der globale Schwerpunkt, auch bei den mathematischen Aufgaben, wo es weniger um das Rechnen als solchem als um das Verständnis der Aufgabenstellung ging. Und gerade beim Schwerpunkt Leseverständnis haperte es am meisten bei den deutschen SchülerInnen, übrigens mit einem signifikanten geschlechtsspezifischen Gefälle zugunsten der Mädchen.

Die meisten Kommentatoren der schrittweise veröffentlichten Ergebnisse fanden sich in dem bestätigt, was sie angeblich immer schon wussten, die anderen zweifelten die methodische Grundlage und Vergleichsbasis der Studie an, Politiker erkannten dagegen in der PISA-Studie die Bestätigung des von ihnen seit jeher vertretenen Bildungskonzepts: Gesamtschule für die SPD und „gegliedertes Schulsystem“ für die CDU. Dabei haben sich beide Konzepte schon längst von selbst ad absurdum geführt, gemessen an ihren eigenen Ansprüchen, und die PISA-Studie bestätigt dies eindrucksvoll: Weder klappt das „soziale Lernen“ und die Förderung der Schwächeren an den Gesamtschulen so wie es sollte, da die Gesamtschulen bei PISA in den oberen beiden von fünf Leistungskategorien (d.h. in etwa Note 2 und 1) noch schlechter abschnitten als die Realschulen (!) (und beide zusammen erheblich schlechter als die Gymnasien), noch schnitten deswegen die Gymnasien besonders gut ab, ganz im Gegenteil: im Spitzenbereich sind die deutschen Gymnasiasten im Durchschnitt trotz allem schlechter als die vergleichbaren EinheitsschülerInnen anderer Länder, allen voran die skandinavischen, wo jeweils ein gesamter Jahrgang dieselbe Schule besucht, zumindest bis Ende der Sekundarstufe 1, und nicht wie bei uns bereits nach Leistung vorsortiert ist.

Doch unverdrossen halten die einen (SPD und GEW) das Konzept der Gesamtschule hoch, seit jüngstem in der GEW durch die Formel „eine Schule für alle“ ersetzt, wo die Schlechteren von den Besseren im Verbund des „sozialen Lernens“ profitieren sollen, was de facto jedoch so etwas wie eine Solidarität der Besseren mit den Schlechteren bedeutet, während die anderen (CDU und ihre bildungspolitischen Truppen wie der Philologenverband im Beamtenbund) auf eine Eliteformierung durch das Gymnasium setzen, wobei sie wenig interessiert, was mit denen passiert, die dabei herausfallen und warum sie herausfallen. Dass das Niveau der Gesamtschulen tatsächlich weit unter dem der Gymnasien liegt, haben schon seit längerem intensive Untersuchungen der Max-Planck-Gesellschaft für Bildungsforschung gezeigt (siehe u.a. FAZ 27. & 28.9.1999): an Gesamtschulen kommt man zwar leichter zum Abitur, jedoch weil die Anforderungen dafür heruntergeschraubt sind. Der flächendeckende Vergleich zwischen Gesamtschulen und Gymnasien in NRW ergab einen durchschnittlichen Rückstand des Wissens und der Kenntnisse von Gesamtschülern um ein ganzes Jahr (!) gegenüber gleichaltrigen Gymnasiasten.

Die klassische Eliteselektion als Gegenmodell funktioniert in reinster Form am ehesten noch in Bayern, das entsprechend auch immer wieder vorgezeigt wird, und bringt zwar isoliert betrachtet gute Leistungsergebnisse, aber nicht genug Schüler mit solch guten Leistungen: So hat Bayern eine Akademikerunterproduktion und muss auf Zuwanderung setzen – wenn’s geht durch eine deutsche Binnenwanderung, versteht sich.[1] Musterstadl Bayern: die scharfe Auslese der Besten bringt zu wenige gute Absolventen.

Schon an den internen Zielvorgaben und am deutschen gesellschaftlichen Bedarf gemessen versagen also beide Systeme, wenn auch aus verschiedenen Gründen, um so krasser jedoch im internationalen Maßstab: die Bestplatzierten beim PISA-Vergleich setzen nicht nur auf immer mehr höhere Bildung: Schweden 90% eines Jahrgangs Abitur, Finnland bis zu 70% Akademiker, sie schaffen es auch. Sie haben im Gegensatz zu den Deutschen frühzeitig erkannt, dass die zweite technologische Revolution nur noch einen minimalen Sektor an alter „Handarbeit“ übrig lassen wird und zukünftig, meist heute schon, auch klassische Arbeiterberufe durch den Einsatz modernster computergesteuerter Technik ein hohes Maß an Bildung als Voraussetzung für die eigentliche Ausbildung erfordern. Dies zieht bei uns auf der untersten Ebene des „gegliederten Bildungssystems“ der Hauptschule (und teilweise auch der Realschule) regelrecht den Boden unter den Füßen weg, zumal sich ja dort die Schlechtesten versammeln und keineswegs mehr nur einfach die „eher praktisch Begabten“.

Das erschreckendste, aber tatsächlich nicht überraschendste Ergebnis der PISA-.Studie ist denn auch, dass sich ganz unten auf der Leistungsskala ca. 20% eines Jahrgangs sammeln, die als „funktionale Analphabeten“ (so der offizielle Terminus) bezeichnet werden müssen. Doch auch am anderen Ende der Skala kann die deutsche Schule die ihr gestellten Anforderungen nicht erfüllen: Weder eine numerisch unzureichende Elite noch eine zu schlecht gebildete Masse an Abiturienten wird gebraucht, sondern möglichst viele Schulabgänger mit möglichst guter Bildung. Der internationale Vergleich zeigt, dass das deutsche Bildungssystem auf allen seinen Stufen und in allen seinen Formen relativ schlechte Ergebnisse produziert, weil die Leistungen der getesteten deutschen 15-jährigen auf fast allen Leistungsniveaus von 5 (bestes) bis 1 (schlechtestes Niveau) unterdurchschnittlich sind. Nicht nur die Hauptschüler sind schlechter als sie sein sollten, sondern auch die Gymnasiasten; nicht nur die Schulformen, die die Wegselektionierten von oben her aufnehmen müssen (darunter auch die Gesamtschule), sondern auch die Schule, die von der Selektion profitiert, also das Gymnasium, schneidet zu schlecht ab. Dies wird auch durch die Hamburger Langzeitstudie LAU eindrucksvoll bestätigt, die sowohl bei Gesamtschülern des gymnasialen Zweigs wie bei Gymnasiasten einen faktischen Lernstillstand in den Grundlagenfächern, vor allem aber in Deutsch, zwischen Klasse 7 und 9 bescheinigt. Diese Langzeitstudie ist um so beeindruckender und aussagekräftiger als PISA, als sie nicht mit einer Auswahl von Testschülern operiert, sondern jeweils die ganze Jahrgangs­breite der Schülerpopulation Hamburgs testet.

Freilich haben die Vertreter des jeweiligen Schulsystems immer eine jeweils passende Ausrede für das schlechte Abschneiden ihrer Schulform parat: Die einen argumentieren damit, dass sie an der Gesamtschule die gescheiterten Schüler des Gymnasiums auffangen müssen, die anderen beschweren sich spiegelverkehrt aber in derselben Logik – wenn auch  nicht so offen –, dass zu viele schlechte Schüler aufs Gymnasium wollen oder sollen und dort eben das „Niveau verderben“.

Nun besagen Zielvorgaben wie 90% Abitur in Schweden per se auch noch nichts über das Niveau dieser Schulabgänger, doch PISA attestiert den Skandinaviern zumindest ein hohes Niveau am Ende der Sekundarstufe 1, und das eben nicht nur einer gymnasialen Elite, sondern einer ganzen Jahrgangsbreite. Auch in Frankreich gibt es seit über 15 Jahren die Diskussion um die Zielvorgabe 80% Abitur. Je mehr man sich diesem Ziel nähert, desto mehr stellt man jedoch fest, dass dies um den Preis eines sinkenden Abi-Niveaus erkauft wird, und ein bekannter Spruch an den Schulen lautet: „Ohne das Abi bist du nichts, mit dem Abi hast du nichts.“[2] An der Hochschule müssen anfangs erst einmal die Defizite ausgeglichen werden und eine Quote von Abbrechern oder Durchgefallenen von 50% im ersten Jahr ist keine Seltenheit. Dennoch schnitten in der PISA-Studie die fünfzehnjährigen französischen Schüler besser als die deutschen ab.

 

2. Bildung und gesellschaftliche Utopie

 

Es geht hierbei nicht nur um ein schlechtes Abschneiden Deutschlands bei einer internationalen Klassenarbeit, sondern um eine grundlegende gesellschaftliche Problematik. Erinnern wir uns – die Bildungsreform der 70er Jahre hatte im Wesentlichen drei Stoßrichtungen:

1. Eine soziale, wonach breitere Schichten zu höheren Bildungsabschlüssen gelangen sollten („Arbeiterkinder an die Uni!“); hierbei wurde die Bildungsoffensive als Antwort auf einen steigenden gesellschaftlichen Bedarf mit der politischen Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit („gleiche Chancen für alle“) verbunden.

2. Eine pädagogische, nämlich die Befreiung der gymnasialen Oberstufe aus dem Korsett des Klassenverbandes und des standardisierten Unterrichts, mit dem Ziel von mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Schüler, Kurswahl nach „Interessen und Neigungen“.

3. Eine entsprechende Reform der Unterrichtsinhalte mit dem Ziel der Erziehung zu selbständiger Erkenntnis und eigenverantwortlichem Handeln.

Die Linke innerhalb und außerhalb der SPD, aber in der GEW vereint, führte beim letztgenannten Punkt die Zielsetzung emanzipatorischer Bildungsinhalte weiter in Richtung auf die Schaffung eines „kritischen Bewusstseins“. Wenn man diese Vorstellung von ihrem utopischen Gehalt befreit, nämlich der damit verbundenen Hoffnung auf eine gesellschaftskritische und damit à la longue gesellschaftsverändernde Komponente, dann bleibt davon die bildungspolitisch-pädagogische Forderung nach einer Erziehung zur geistigen Selbständigkeit übrig, die auch einmal Grundlage der bürgerlich-liberalen Bildungsutopie vom freien, selbstbestimmten Individuum war. Hierin konvergierten erstaunlicherweise also zwei ansonsten antagonistische gesellschaftspolitische Positionen, denn, obwohl wir uns damals klarmachten, dass „das Sein das Bewusstsein bestimmt“, so wollten wir doch gerade diesen Spieß umdrehen.

Die bürgerlich-aufgeklärte Bildungsutopie hatte schon im 18. Jahrhundert das Projekt gesellschaftlicher Veränderung mit der „Erziehung des Menschengeschlechts“ verknüpft; im 19. Jahrhundert substituierte – um nicht zu sagen: sublimierte – man in Deutschland die nicht stattfindende gesellschaftlich-politische Revolution durch das die Aufklärung fortsetzende Projekt von der richtigen Erziehung: Veränderung der Gesellschaft durch allmähliche Veränderung der Individuen. Nicht umsonst sind in dem politisch immobilen Raum Deutschland – Schweiz – Österreich die meisten pädagogischen Reformprojekte entstanden, oppositionell und minoritär angesichts eines verkrusteten autoritären Systems, aber nicht ohne Wirkung, vor allem nach 1918. Dabei gingen noch lange Zeit die neuen Vorstellungen von einer subversiven, emanzipatorischen Erziehung der „Untertanen“ mit den alten aufklärerischen Ideen einer Erziehung der Herrschenden zu vernünftigem Handeln parallel. Dies klingt gesellschaftlich verschoben selbst noch in Walter Benjamins vom linken mainstream abweichender Auffassung an, der Adressat des linken Intellektuellen sei nicht das Volk oder die Arbeiterklasse, sondern seinesgleichen, und diesbezüglich gab es ja zwischen 1918 und 1933 wahrlich Handlungsbedarf. Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands 1945 setzten praktisch alle, die sich jetzt in den freien Medien zu Wort meldeten, auf eine neue Erziehung der Deutschen, am kuriosesten verkörpert in der Forderung des alten Historikers Friedrich Meinecke nach „Goethe-Gesellschaften“, in denen sich die Deutschen am Feierabend und an Feiertagen zur Lektüre zusammenfinden sollten. Dabei hatten Meinecke und seine Historikerzunft – und das ist eben charakteristisch für die damalige Situation – ja vor 1933 an den Universitäten gerade alles dafür getan, der Weimarer Republik geistig das Wasser abzugraben, viele von ihnen haben wesentliche Teile die NS-Ideologie mitgetragen, vor allem ihren revanchistisch-nationalis­tischen Aspekt. So konnte ein pädagogisch-emanzipa­to­risches Projekt bei personeller Kontinuität des Lehrkörpers nach 1945 an Schulen und Hochschulen nicht verwirklicht werden. Wie bekannt, hatte ja auch die Revolte der 60er Jahre eine ihrer Wurzeln in der aufgeschobenen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und war die Überwindung des halb aus der NS-Zeit übernommenen, halb neu geschaffenen autoritären Geistes der Adenauer-Ära eine nachgeholte Befreiung aus nicht nur selbst verschuldeter, sondern auch selbst gewollter Unmündigkeit – selbst gewollt aus Furcht vor Freiheit in Selbst­verantwortung.

Das typisch deutsche Konzept der „Bildung“ enthielt stets einen emanzipatorischen Aspekt, anders als „Erziehung“, die autoritär sein konnte, denn „Bildung“ implizierte die Unabhängigkeit der individuellen Urteilskraft, selbst wenn das Bildungsbürgertum sich natürlich auch seinen Wertekanon schuf. Es scheint eine Art Relation zwischen dem Grad der Unabhängigkeit des Geistes und der politischen Bedeutungslosigkeit des Bildungsbürgertums gegeben zu haben, während nach 1945, als das Bildungsbürgertum endlich auch politisch das Sagen hatte, es sich selbstgewollt dieser geistigen Freiheit aus Angst vor ihren Konsequenzen versagte. Obwohl sich nach 1968 viel in Deutschland änderte – was aber damals von den 68ern weit weniger erkannt wurde als von ihren Gegnern – führte der Weg der 68er Revolte und ihrer Nachhutgefechte in eine neue Utopie von der Veränderung der Gesellschaft durch Erziehung und Schule. Vielleicht weniger in dem Sinne einer ideologischen Indoktrination durch umgekrempelte Inhalte, wie damals von konservativen bis hin zu sozialdemokratischen Kreisen befürchtet (siehe Radikalenerlass), als vielmehr in der rousseauistischen Vorstellung, auch in einer als repressiv verstandenen Gesellschaft sei eine Befreiung des Individuums dadurch möglich, dass man ihm schlichtweg Freiheit zur eigenen Entwicklung gebe, learning by doing sozusagen, von der antiautoritären Kindertagesstätte bis zum selbstbestimmten Abitur. Der größte Teil der heute unterrichtenden Lehrer entstammt jener 68er und post-68er Generation, auch wenn es einerseits stets ein Mythos war zu glauben, eine ganze Generation habe damals kritisch zur Gesellschaft gestanden, und auch wenn andererseits nicht wenige gealterte Lehrer von heute ihre damalige Protesthaltung gerne vergessen machen.

Doch auch die moderne Variante der bildungsbürgerlichen Utopie, die schulische Auslese der Besten zum Besten der ganzen Gesellschaft, bröckelt auf vielen Ebenen, nicht zuletzt dadurch, weil sich das Bildungsbürgertum und seine Werte allmählich in der Gesellschaft auflösen. Kinder, denen es zuhause an nichts fehlt – so meine These – scheitern aus mangelnder Motivation auf der Schule oder schleppen sich gerade so durch, weil sie von klein auf offenbar nie gelernt haben, warum man sich für etwas anstrengen muss. Dies wäre früher in einem soziokulturell klarer eingegrenzten Bildungsbürgertum undenkbar gewesen: das Erziehungsideal bestand geradezu darin klarzumachen, dass einem nichts in den Schoß fällt und dass all der Wohlstand, in dem die Kinder aufwuchsen, erarbeitet und erkämpft war. Die bildungsbürgerliche Erziehung arbeitete somit in gewissem Sinne der unmittelbaren Wahrnehmung der Kinder entgegen. Das bürgerliche Ideal des „Leistung muss sich bezahlt machen“ wird heute von konservativen bis liberalen Kreisen um so mehr als politisches Ideal hochgehalten, wie es als erzieherisches zu verschwinden droht.

 

 

3. “We don’t need no education, we don’t need no thought control”?

 

Die inzwischen schon etwas älteren Herren von Pink Floyd brachten in ihrem berühmtesten Song die Utopie ihrer eigenen Jugend damals der Generation ihrer eigenen Kinder nahe, wobei zwischen beiden Teilen des Verses wohl eine kausale Verknüpfung besteht. Selten wurde die linke Bildungsutopie in ihrer radikalsten Form so prägnant zum Ausdruck gebracht. Doch als dies musikalisch um die Welt ging, begann zumindest bei uns ein Prozess, der auf eine tendenzielle Verwirklichung des Botschaft des ersten Teils abzielte, jedoch ohne die des zweiten. Längst gibt es – so meine These – einen Rückgang von Erziehung, aber nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern weil vielen Eltern in erster Linie daran liegt, sich eigene Freiräume dadurch zu sichern, dass ihre Kinder dem allgegenwärtigen Medienkonsum überlassen werden. Im pädagogischen Bereich lassen sich alleine daher schon immer auffälligere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite erklären. Bildungspolitisch bedeutet dieses „no education“ nicht eine Befreiung von „thought control“, sondern das genaue Gegenteil.

Es geht somit hinsichtlich der Konsequenzen aus der PISA-Studie auch gar nicht um eine schematische Gegenüberstellung Leistung versus Inhalte. Wer heute geistes- und sozial­wissenschaftliche Fächer unterrichtet, ist mehr oder weniger mit einem Scherbenhaufen der nicht nur linken Bildungsutopie konfrontiert. Mit der laut PISA mangelnden Lesekompetenz korreliert nämlich mangelnde Selbständigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit von vielen – zu vielen! – Schülern gegenüber vorgegebenen Inhalten. Während wir als Schüler damals pauschal alles kritisierten, was uns vorgelegt wurde, herrscht in der heutigen Schülergeneration mehrheitlich die gegenteilige Haltung vor. Immer wieder müssen wir erfahren, wie nahezu jedweder vorgegebene Text naiv als Autorität akzeptiert wird, stehen wir vor dem Problem, Klassenarbeiten – und gerade noch Oberstufenklausuren bis hin zum Abitur – bewerten zu müssen, in denen eindeutig ideologisch geprägte Passagen aus vorgegebenen Quellen (z.B. nationalistischen oder nationalsozialistischen Inhalts in Geschichte) schon sprachlich so affirmativ übernommen wurden, dass man am Schülertext selbst nicht entscheiden könnte, ob die Sicht des zu analysierenden Autors vom Schüler schlichtweg übernommen wurde oder nicht. Und hier verknüpfen sich eben alle Einzelprobleme zu einem gordischen Knoten: mangelnde Lesekompetenz bis hin zu simplen Textverständnisproblemen, mangelnde Sprachbeherrschung und Ausdrucksfähigkeit, mangelnde kritische Distanz zum Gelesenen, mangelnde Urteilsfähigkeit und nicht zuletzt mangelndes Selbstbewusstein. Und auch hier liefert die PISA-Studie entsprechende Ergebnisse: Auch und gerade im intellektuellen Anforderungsbereich des selbständigen Reflektierens schneiden die deutschen Schüler schlecht ab.

Fazit: Es ist daher sinnlos, auf emanzipatorische Bildungskonzepte zu setzen, wenn elementare Verständnis­grundlagen fehlen: Ohne Kenntnis keine Erkenntnis, ohne Wissen kein Gewissen.

Die bisher vorgebrachten Lösungsvorschläge für ein in dieser Tiefe kaum begriffenes Problem sind leider so einseitig wie die ihnen zugrundeliegenden monokausalen Erklärungen. Auch aus dem internationalen Vergleich lässt sich nicht nachweisen, dass es jeweils nur am mangelnden Geld, an schlechten institutionellen Rahmenbedingungen (Einschulungsalter, Halbtagsschule), am fehlenden Engagement der Lehrer oder an anderen Einzelfaktoren (Schulform, Klassenstärke...) liegt. Auch die Auswirkungen der Konsumgesellschaft sind logischerweise kein rein deutsches Phänomen, doch schlägt dies freilich um so mehr auf eine Schülerpopulation durch, die dem Medienkonsum bereits ab dem Frühnachmittag ausgeliefert wird. Der hierzulande jetzt neu pädagogisch und sozial begründete Ruf nach der Ganztagsschule, ebenso wie nach einer früheren Einschulung und pädagogischen Aufwertung der Vorschulphase, ist jedoch nicht nur eine bildungs- sondern auch eine finanzpolitische Frage, denn für diese größere erzieherische Verantwortung des Staates müssten enorme finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, alleine schon infrastrukturell (Baumaßnahmen), ganz zu schweigen von den Personalkosten. Die Förderung schwacher Schüler, wie sie das Gesamtschulsystem eigentlich vorsieht, müsste überall so erfolgen, dass sie real auf feste Leistungsstandards hin gefördert und nicht nur sozial integriert werden unter Inkaufnahme einer fatalen Senkung der allgemeinen Leistungsanforderungen. Ein besonderes Problem ist die mangelhafte Integration von Kindern ausländischer Herkunft, dies wurde immerhin von allen erkannt, doch kann ein soziales Problem kaum pädagogisch gelöst werden.

Grundsätzlich hat Bildung in Deutschland bislang keinen ausreichenden gesellschaftlichen Stellenwert und damit verknüpft haftet der Vereinnahmung der Kinder durch den Staat hierzulande aus historischen, jedoch inzwischen obsolet gewordenen Gründen immer noch etwas Totalitäres an. Gleichzeitig wird von den Lehrern gefordert, aus dem ihnen anvertrauten zeitlichen Betreuungsminimum pro Schüler müsse ein Maximum an pädagogischem Resultat folgen. Auf diese scheinbare Quadratur des Kreises verweisend reduzieren viele Lehrer ihr Engagement auch auf ein Minimum diesseits des Möglichen und der wahrscheinlich einmalige Status der Unabhängigkeit, den sie in Deutschland genießen, ermöglicht es ihnen und verführt sie dazu. Von daher ist die in der PISA-Diskussion sehr oft geäußerte Kritik an der mangelnden Kooperation unter Lehrern sicher treffend, trifft aber eben auch nur einen von vielen Faktoren; verfehlt ist dagegen die damit verbundene Schuldzuweisung, ebenso wie die entsprechende Abwehrreaktion in der Lehrerschaft, es liege nicht an ihnen, folglich sei die Problembewältigung Aufgabe der anderen (Staat, Eltern, Schüler). Aber wenn auch das Problem nicht auf „schlechten Unterricht“ zurückführbar ist, so muss doch der Unterricht auf diese Herausforderung reagieren. Hier zeigt sich freilich die fatale Konsequenz der Überalterung der Lehrerschaft durch die Einstellungspraxis der letzten zwanzig Jahre. Die Verjüngung des Lehrkörpers hat gerade erst seit ein paar Jahren eingesetzt, von einer ganzen Lehrergeneration, die der Pensionierung entgegensieht, ist schlichtweg nicht zu erwarten, dass sie noch zuletzt den Unterricht revolutioniert.

Das Schwierigste bleibt jedoch der sozialpsychologische Faktor: Die Vorstellung der Fun-Gesellschaft, alles pädagogisch Notwendige ließe sich spielerisch und in Spaß verkleidet dem Schüler darbringen, ansonsten sei es nicht valabel – lange Zeit übrigens durch eine entsprechende offizielle Pädagogik flankiert, freilich aus anderen Motiven heraus –, hat erheblichen Anteil am Desaster. Versucht man gerade in den von PISA festgestellten Defizitbereichen drastisch erst einmal auf die Defizite aufmerksam zu machen, Voraussetzung für deren Behebung, stößt man als Lehrer oft auf den erbitterten Widerstand nicht nur von Schüler- sondern auch von Elternseite. Symptomatisch ist der Ausstieg Berlins und Hamburgs aus der nationalen PISA-Studie aufgrund des Boykotts durch einen Teil der Schüler, in Hamburg unterstützt von der Elternvinitiative „Protest gegen Test“ und zumindest flankiert von Politikern und Lehrergewerkschaftern, die sich zwar gegen den Vorwurf des Boykottaufrufs verwahren, diesen aber doch wohl mit dem Kommentar, aus den vielen Tests folge keine Verbesserung der Situation, argumentativ untermauert haben.[3] Natürlich folgt aus den Tests noch nicht die Lösung – und ein Patentrezept gibt es sowieso nicht –, doch ohne Tests wie PISA oder LAU in Hamburg würde noch nicht einmal darüber diskutiert. [...]

 

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[1] Als ich vor einigen Jahren an einem Beruflichen Gymnasium in Sachsen unterrichtete, warb der sächsische Kultusminister bei einem Besuch an unserer Schule mit den Chancen im benachbarten Bundesland für akademisch Ausgebildete in technisch-naturwissenschaftlichen Fächern, Bayern stelle geradezu ein natürliches Auffangbecken für sächsische Akademiker dar, die es aufgrund der zu schwachen Wirtschaftslage im Osten schwierig hätten; so warb er auch für die entsprechenden Studienfächer.

[2] Vgl. z.B. Le Monde de l’Education, September 2001 und Le Monde, 8.3.2002 (Le Monde des livres).

[3] Vgl. taz 4.4. und 5.4.2002.

 

 

Wolfgang Geiger

Bildung+/–Politik:

Eine Dialektik der Freiheit             

 

© 2003 by the author and Kommune

Erschienen in: Kommune 5/2003, S.38-41.

 

 

Die inter nationalen wie auch die inner nationalen Bildungsvergleiche haben, abgesehen von den Diskrepanzen bei der Herstellung gleicher „Laborbedingungen“, einen Vor- und einen Nachteil: Die Ergebnisse liefern Daten zur Erkenntnis der Probleme, nicht aber gleichermaßen zu deren Lösung. Deswegen interpretiert jeder, wie er will: Befürworter des typisch deutschen „dreigliedrigen Schulsystems“ sehen sich ebenso bestätigt wie Verteidiger des eher international gängigen Gesamtschulkonzepts. Letztere sind in einer Phase des Zweifels an ihrem alten Credo durch PISA geradezu in einen Jungbrunnen gefallen: Sind denn die Skandinavier nicht Spitzenreiter wegen ihres Gesamtschulsystems (eigentlich sogar Einheitsschule bis Ende der Sekundarstufe I)? Ihre Gegner kontern: In der innerdeutschen Ergänzungsstudie PISA-E haben eindeutig die CDU-Länder gesiegt, also die SPD-Gesamtschul-Länder versagt. Doch „die Analyse der Befunde zu PISA-E darf insgesamt nicht vergessen machen, dass der innerdeutsche Streit ein Streit darum ist, wer in der zweiten Liga die ersten Plätze einnimmt,“ wie der Essener Bildungsforscher Klemm richtig bemerkt (die Quellen sind summarisch am Ende aufgelistet).

 

1. Problem+/-Analyse

Nicht nur wegen PISA-E ist die CDU bildungspolitisch tonangebend, auch die politische Verschiebung in den Ländern und damit im Bundesrat hat die SPD in der KMK in eine aussichtslose Minderheitenposition gebracht: das einzige Land mit einer ungebrochenen SPD-Bildungspolitik ist NRW; die alten CDU-Länder Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz wurden von der SPD unter Beibehaltung des Schulsystems übernommen, die SPD-Bastionen Hessen und Hamburg gingen verloren, Niedersachsen wechselte zur CDU zurück. Zudem fiel der turnusmäßige Wechsel im Vorsitz der KMK dieses Jahr an die hessische Ministerin Karin Wolff, die dies geschickt für ihre Politik nutzt. Festlegung von Bildungs- und Leistungsstandards, Zentralabitur, Vergleichsarbeiten in verschiedenen Klassenstufen und permanente Evaluierung durch Tests stehen auf dem Programm. NRW und Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz stehen bislang beim Zentralabitur noch abseits, dürften aber über kurz oder lang folgen.

Wesentliche Aspekte innerhalb der Gesamtproblematik werden kaum oder nicht erkannt, wenig, gar nicht oder falsch diskutiert: die Relation zwischen Lebensalter und Lernalter der deutschen Schüler im internationalen Vergleich; Organisation von Unterricht im internationalen Vergleich (Ganztagsschulthematik); (fehlende) Bilanzen unserer Bildungsmodelle gemessen an ihren eigenen Ansprüchen.

Unberücksichtigt oder unterbelichtet blieben in der innerdeutschen Debatte bislang wichtige empirische Kontextfaktoren, so z. B. die Tatsache, dass in den gut abschneidenden CDU-Ländern bei PISA-E auch mehr unterrichtet wird als in den SPD-Ländern: Bayern, Thüringen, Sachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein liegen über dem Durchschnitt von 9082 Gesamtunterrichtsstunden bis zum Ende des 9. Klasse, die größte Spanne liegt zwischen Bayern mit 9829 und NRW mit 8778 Std.; die bayrischen Schüler hätten im selben Zeitraum also 1051 oder ca. 10% mehr Unterricht erhalten als die nordrhein-westfälischen, das sind konkret z.B. 3 Std./Woche mehr in der  Grundschule. Damit soll wohlgemerkt keine lineare Funktion zwischen Quantität und Qualität konstruiert werden, die Einzelzahlen würden dies widerlegen: z.B. hat Sachsen-Anhalt den meisten Deutschunterricht und schneidet dennoch schlecht beim Leseverständnis ab. Vielmehr geht es um den Gesamteffekt schulischer Präsenz, die in Deutschland ohnehin im internationalen Maßstab die niedrigste ist, nirgendwo werden Schüler so sehr sich selbst überlassen (nachmittags zu Hause) wie bei uns. Ähnliches gilt für die Lehrer-Schüler-Relation, die in der Sekundarstufe in Bayern die niedrigste ist (1:17 gegenüber 1:20 in NRW). Auch hier heißt dies nicht, das in kleineren Klassen besserer Unterricht läuft, aber die Kumulation mehrerer solcher Faktoren kann nicht ohne Auswirkungen bleiben.

Die IGLU-Studie zu den Grundschulen hat im Übrigen gezeigt, dass die schnelle Problemabwälzung vom Sekundarbereich auf die Grundschule verfehlt war. Doch bezeichnenderweise fehlt jenseits der Freude über das vergleichsweise gute Abschneiden Deutschlands eine aufrichtige Bilanz, die IGLU mit PISA verknüpft: die Krise der Bildung in Deutschland fällt mit dem schwierigsten Lebensalter der Schüler, nämlich mit der Pubertät zusammen. Dies liegt auch daran, dass die deutschen Schüler im internationalen Vergleich zu spät eingeschult werden und die entsprechende fachliche Progression des Unterrichts (wenn es also „richtig schwer“ wird) in der deutschen Schülerbiographie unter lernpsychologischen Gesichtspunkten zu spät einsetzt. In Ländern wie Frankreich, die schon durch ein Vorschulsystem früher einschulen und außerdem nur 12 Jahre bis zum Abitur haben (was jetzt nach dem ostdeutschen Vorbild auch in Westdeutschland durchgesetzt wird, als nächstes in Hessen), werden schwierige Etappen des Fachunterrichts eindeutig früher und dadurch besser in der Schülerbiographie bewältigt. Zur späten Regel­einschulung in Deutschland kommt ja auch noch ein relativ hoher Anteil Zurückstellungen bei der Einschulung von knapp 10% sowie der hohe Anteil der Wiederholer hinzu: 25% im Durchschnitt in den alten Ländern (gegenüber 14,9% im Osten), im Ganzen macht dies für die alten Länder statistisch ca. ein Drittel der Schüler aus, die ihren Schulabschluss ein Jahr später als im Regelfall abschließen. In Frankreich machen die Schüler mit 18 Abitur, bei uns sind viele bereits 20 Jahre alt; schon wegen der Diskrepanz zwischen der Schülersituation und der immer früheren psycho-sozialen Loslösung aus dem Elternhaus müssen sich daraus Motivationsprobleme und schulische Konfliktpotentiale ergeben. Mit einem Wort: unsere Schüler sind zu alt.

Diese strukturellen Faktoren werden in der Debatte minimal oder gar nicht berücksichtigt. Der Faktor „Stundentafel“ wird zwar summarisch im Bericht der KMK erwähnt, nicht mehr jedoch bei den sogenannten „bildungspolitischen Handlungsfeldern“; außer einigen allgemeinen Aussagen tauchen hier konkret nur die gezielte Förderung der Lesekompetenz im Grundschulbereich, eine eventuell frühere Einschulung sowie die Ganztagsangebote auf. Mit Ausnahme der vage formulierten Einschulungsfrage sind dies jedoch nur Maßnahmen in Richtung Problemgruppen, während PISA ja gerade offenbarte, dass es auch einen Rückstand in der Breite und bei den besseren Schülern im internationalen Vergleich gibt. Symptomatisch ist gerade das sogenannte „Ganztagsangebot“, mit dem ein konkreter Schritt zur Problemlösung suggeriert wird. Was da z.B. in Rheinland-Pfalz (SPD) oder in Hessen (CDU) praktiziert wird, hat mit der Ganztagsschule (leider) nichts zu tun, vielmehr ist es das, was man früher den „Hort“ nannte, nur diesmal an der Schule selbst organisiert. Allein die Tatsache der Freiwilligkeit macht daraus einen pädagogischen Nonsens, denn der gedrängte Vormittagsunterricht bleibt ja bestehen. Sinn des Ganztagsunterricht – das muss überhaupt erst einmal gesagt werden –, ist ja nicht viel mehr Unterricht, sondern die pädagogisch ausgewogenere Streuung inklusive Betreuungsgarantie für berufstätige Eltern. Nur letzteres bietet auch das „Ganztagsangebot“, ob die Zielgruppe jedoch darauf überhaupt anspricht, wird sich erst zeigen müssen.

 

2. Freiheit+/-Pflicht

Die offizielle Diagnose lautet: Schulen und Lehrer machen zu sehr, was sie wollen, und das schlecht. Unsere Bildungsprobleme sind tatsächlich das Resultat einer Freiheit mit vielfältigen Facetten: Freiheit der Schüler, Lehrer, Eltern; Freiheit der Schulen; Freiheit der Parteien, Regierungen, Politik auf Länderebene. Zur Lösung der Probleme wird derzeit angeboten:  weniger Freiheit für Schüler und Lehrer, zugleich aber mehr Freiheit für Schulen, Länderpolitik...

Die Freiheit des Lehrers hat zweifellos zu einer nicht akzeptablen Bandbreite von Unterschieden in Unterricht, Leistungsanforderungen und –bewertungen geführt; dies wurde den Lehrern jedoch auch institutionell vorgegeben: Unterricht und Leistungskriterien müssen an die Lerngruppe angepasst werden. Das klingt einerseits selbstverständlich, führt aber andererseits dazu, dass je nach Schule, Schultyp, soziokulturellem Einzugsbereich sowie Eigendynamik der Klassen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Allein durch diese Vorgabe driften die Unterrichte auseinander, am Ende sollen jedoch alle eine vergleichbare Abschlussqualifikation erhalten, mit dem Abitur an der Spitze, das deswegen (wieder) zentralisiert wird: „Verschiedene Wege zum selben Ziel“ lautet die Parole. Der Diskurs über den Missbrauch der pädagogischen Freiheit hat jedoch diese Rahmenbedingungen weitgehend ausgeblendet – auch in den Thesenpapieren der Heinrich-Böll-Stiftung – und in einen billigen Pauschalvorwurf an die Lehrer umgemünzt. Dagegen stimmt es, dass die individuelle Freiheit zu Lasten der notwendigen Koordination zwischen den Lehrern gegangen ist. Ob das geplante Korsett von Tests, zentralen Prüfungen und direkten Zwängen gegenüber den Lehrern die Bereitschaft dazu fördert, ist höchst fraglich. Eine echte Alternative dazu wäre die von der Heinrich-Böll-Stiftung vorgeschlagene reale Autonomie der Schule, wo die Schulleitung auf Zeit von der Schulkonferenz (Vertretung von Lehrern, Schülern, Eltern) gewählt und dadurch Selbstkontrolle im Rahmen einer Selbstverwaltung ermöglicht würde.

 

3. Reform+/-Illusion

Sämtliche Reformvorschläge hinsichtlich der Lehrkräfte zielen auf eine Ausweitung ihrer Aufgaben, sei es im klassischen Bereich ihres Fachunterrichts, sei es in der informationstechnischen Weiterentwicklung und/oder der Übernahme zusätzlicher Aufgaben, die den Lehrerberuf sozialpädagogisch noch mehr zu einer Allzweckfunktion aufrüsten sollen, um entsprechend qualifiziertes Personal, wie es in anderen Ländern an Schulen existiert, bei uns nicht auch noch einstellen zu müssen. Zugleich wird verschiedentlich am Unterrichtsdeputat weiter nach oben gedreht, eine Ganztagspräsenz an der Schule sowie die Reduzierung der Ferien für Lehrer auf den Regelurlaub (4 Wochen) und die Abschaffung des Beamtenstatus angedroht. Die Forderung nach einer „Arbeitsplatzpräsenz“ ist jedoch surreal angesichts eines real nicht existierenden „Arbeitsplatzes“: Welcher Lehrer verfügt denn über seinen Computer, seinen Bücherschrank oder auch nur seinen Schreibtisch in der Schule...?

Die deutsche Schule funktioniert mit einem Minimum an Investitionen für die Ausstattung des Unterrichtsortes und einer damit korrelierenden und gewiss in der Besoldung eingeplanten Selbstausbeutung der Lehrer (Beschaffung von Arbeitsmitteln auf eigene Kosten, eigener Heimarbeitsplatz, Wochenendarbeit für Korrekturen etc.).  Die geplanten Reformen beschreiten weiterhin diesen Weg. Mit der angestrebten Finanzautonomie der Schulen soll natürlich auch eingespart werden: mehr Freiheit bei enger geschnalltem Gürtel. So ist es auch z.B. in Hamburg mit der Neuberechnung der Lehrerstundendeputate nach fächerspezifischen Leistungsprofilen, die wissenschaftlich-empirisch ermittelt wurden: Die schon sehr problematische Frage der Gerechtigkeit dabei bleibt auf der Strecke angesichts der Tatsache, dass sich Hamburg dabei unter dem Strich Einsparungen, also eine Erhöhung des durchschnittlichen Unterrichtsverpflichtung verspricht. Die Lehrer sollen die Schüler besser motivieren, heißt es immer, doch werden so die Lehrer motiviert? Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte gerne, dass in Zukunft nicht einfach jeder Lehrer wird, der gerade die Prüfungen besteht, sondern eine Auslese der Besten durchsetzen. Dies setzt voraus, dass es einen Überhang von Kandidaten gibt, gegenwärtig läuft die Tendenz zumindest in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern jedoch in die entgegengesetzte Richtung.

 

4. Freiheit+/- Konkurrenz

Per Erlass wird nichts revolutioniert, das hat die (Bildungs-)Politik durchaus erkannt. So soll es das marktwirtschaftliche Prinzip der Konkurrenz richten: Ein durch Gesetz festgelegter Rahmen von Bildungsstandards und Vergleichstests soll die ansonsten in mehr Freiheit entlassenen Schulen zur Leistung antreiben – am Ende steht, ausgesprochen oder nicht, ein Ranking von Schulen und Lehrern. Positive und negative Effekte dieses in den letzten Jahren in England eingeführten Prinzips wurden kürzlich in der Zeit dargestellt, ebenso wie übrigens die Affinität dieses Systems zur untergegangenen sozialistischen Planwirtschaft. Entscheidender ist jedoch, dass dieser Logik ein realitätsfernes eindimensionales Kausaldenken von Erfolg/Misserfolg zugrunde liegt. Jeder weiß doch, wenn er will, dass schlechte Leistungen einer Klasse nicht pauschal dem Lehrer zugeschrieben werden können (doch genau das ist jetzt „in“): ebenso wie verschiedene Lehrer mit verschiedenen Situationen unterschiedlich zurecht kommen, gibt es auch unterschiedlich schwierige oder leichte Klassen, und das sogar je nach Fach verschieden. Stattdessen geht es jetzt in Richtung Mobbing durch Ranking.

Das Schulranking zielt auch auf die Schulwahl durch die Eltern. Für die CDU sollen die individuellen „Schulprofile“ den Eltern Alternativen zur Wahl bieten; die Heinrich-Böll-Stiftung hat die Vision einer freien Schulwahl, wobei das Recht (aber eben nicht die Pflicht) auf die nächstgelegene Schule bewahrt werden soll, was miteinander praktisch unvereinbar und auch kontraproduktiv ist: Die Anwohner einer „guten Schule“ würden auf ihr Anwohnerrecht pochen, die im Einzugsbereich einer „schlechten Schule“ würden abwandern wollen, kämen aber durch das Vorrecht der Anlieger der „guten Schule“ kaum unter; diese würde übrigens bei einer Auswahlsituation ohnehin nur selektieren: nach Leistung, sozialen oder kulturellen Kriterien. Über kurz oder lang würde sich eine Ghettoisierung verstärken, wie dies andernorts bereits seit langem existiert (z.B. in Frankreich).

In der Konzeption von Autonomie der Schule treffen sich alt-libertäre Autonomie- und Selbstverwaltungsideen der 70er Jahre mit der neo-liberalen Marktidee von heute, denn auch die Heinrich-Böll-Stiftung sieht Rahmenvorgaben in Form von Evaluierung und Qualitätssicherung auf externer und zentraler Ebene vor (was das libertäre Autonomiemodell natürlich nicht im Sinne hatte). Die CDU verspricht sich Leistungssteigerung durch Konkurrenz, der freie Wettbewerb werde zeigen, welche Schule und welches Modell besser ist (eine Art Dauer-PISA). Welche pädagogischen Freiheiten inhaltlicher Art sich die HBS davon verspricht, bleibt unklar, letztlich ist es doch wie bei der Freiheit des Tour-de-France-Teams im Umgang mit Strategien, Energien (und Doping-Mitteln). Denn gemessen wird, wer wann durchs Ziel geht. Die Zielvorgabe von 50% festgelegter Kern-Inhalte, wie sie die HBS vorsieht, ist zwar für jeden Lehrer sympathisch, aber wenig realistisch sowie unterhalb dessen, was noch als genereller Bildungsstandard gelten kann (Was sind denn 50% Kern-Inhalte in der Mathematik oder in der Fremdsprache?). Die derzeit in Hessen angepeilte 2/3-Vorgabe ist praktisch in etlichen Fächern im Gymnasialbereich gerade mal in 80-90% der zur Verfügung stehenden Zeit zu realisieren. Eine 50%-Grenze würde eine konkrete Senkung der überprüfbaren Standards bedeuten oder nur auf dem Papier stehen; in der Realität würden sich die Schulen wahrscheinlich im Konkurrenzdruck ganz auf die bevorstehende Überprüfung dieser Standards durch Vergleichsarbeiten und letztlich das Zentralabitur konzentrieren und auch den übrigen Freiraum dafür opfern möglichst gut abzuschneiden. Wie geschehen in England, wie üblich auch in Frankreich.

 

 

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_________________________

Heinrich-Böll-Stiftung, Chancengleichheit oder Umgang mit Gleichheit und Differenz. 2. Empfehlung der HBS, in: Kommune N°2/02; Autonomie von Schule in der Wissensgesellschaft. 3. Empfehlung der Bildungskommission, Juni 2002; Professionalität und Ethos. Plädoyer für eine grundlegende Reform des Lehrerberufs. 4. Empfehlung der Bildungskommission, Februar 2003. (www.boell.de)

Kultusministerkonferenz, Bewertung der bundesinternen Leistungsvergleiche (PISA-E), 25.06.2002.; Pressemitteilung: Beschluss der KMK zu den IGLU-Ergebnissen vom 08.04.2003. (www.kmk.org)

Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung der Universität Essen (www.uni-essen.de): Klaus Klemm, PISA-E – Erste Einschätzungen (s.a. Frankfurter Rundschau, 26.07.02); Gertrud Hovestadt, Schule in Deutschland 1999/2000 - Statistische Grundlagen für einen Ländervergleich, Mai 2002.

Hessisches Kultusministerium, Pressemeldung vom 22.07.2003. (www.kultusministerium.hessen.de)

John F. Jungclaussen, „Testen, testen, testen. Mit Bildungsstandards und Schulvergleichen wird Englands Nachwuchs auf Leistung getrimmt. Ein Vorbild für Deutschland?“ in: Die Zeit N°32, 31.07.2003, S.61.

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>>chancenfueralle.de

 

 

>>Bildungsmonitor

 

 

Die Zeit  Nr. 49, 25.11.2004)

>>Zeit.de/ Bildungsmonitor

 

Die PISA-Revolution geht weiter...

Neue Untersuchungen zur deutschen Bildungslandschaft:

·                        Der Bildungsmonitor der INSM

·                        PISA 2003

Kommentare und Links zu den Veröffentlichungen

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – INSM ist eine Initiative der deutschen Wirtschaft mit einer Zielsetzung, die in der Namensgebung zum Ausdruck kommt, und beschäftigt sich mit der deutschen Bildungsproblematik im Hinblick auf die wiederum in der Adresse ihrer Homepage zum Ausdruck kommenden Zielsetzung: „Chancen für alle“.

Die INSM hat die deutsche Bildungs­landschaft nach eigenen Angaben erstmalig einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung aufgrund zahlreicher statisti­scher Daten unterworfen – vom Grundschul- zum Hochschulbereich – und dabei ein Ranking der Bundesländer nach über hundert Einzelkriterien aufgestellt. Der Sinn dieser Vermengung ganz unterschiedlicher Aspekte des Bildungssystems im „Gesamt-Benchmarking“ ist durchaus problematisch weil einem zweifel­haften Drang nach äußerlicher Erfolgs-Publicity geschuldet, die den Blick auf manche Realitäten eher verstellt: So werden dadurch Schwächen im einen durch Stärken im anderen Bereich ausgeglichen; Bayern mag sich freuen, wieder auf Platz 1 dabei zu stehen, aber bemerkenswert ist doch die Tatsache, dass, wie ich schon in meinem ersten Artikel zu PISA (siehe oben) ausgeführt habe, das bayerische Bildungs­system zwar sehr gute aber dafür zu wenige Abiturienten und Akademiker hervor­bringt. Die Zeit brachte daher prägnant die Schere zwischen den Extrem­positionen der Bundesländer auf den Nenner: „Bayern braucht mehr Abiturienten, Bremen ein besseres Abitur.“

Auf der Website der INSM (Bildungsmonitor) kann man jedoch auch Einzel­informationen abrufen, freilich ohne allzu viel über deren Erhebungskriterien zu erfahren. Bei der Problematik von Statistiken und deren Interpretation wäre hier zumindest etwas mehr Transparenz sehr hilfreich.

 

 

 

 

 

 

 

>>Bildungsmonitor Hessen

 

Bildungsland Hessen???

Der Bildungsmonitor für Hessen bestätigt die Erfahrungen von PISA 1 und IGLU: die hessischen Grundschulen stehen relativ gut da, der Sekundarbereich um so schlechter. Ich meine, die Bildungsprobleme bündeln sich genau in der für PISA ausgesuchten Zielgruppe der 15-jährigen, wie ich es bereits in meinen zweiten PISA-Artikel angesprochen habe (siehe oben). Nach verschiedenen Untersuchungs­kriterien steht Hessen im Bereich der allgemeinen weiterführenden Schulen auf Platz 13 aller Bundesländer. So gibt Hessen z.B. weniger Geld für die Gymnasial­bildung aus, meint die Studie und kommentiert:

„Wer eine bessere Leistungsfähigkeit der Schüler fordert, muss dafür auch ent­sprechend die Voraussetzungen schaffen. Dies kann auch höhere Ausgaben für die Gymnasien bedeuten, denn für diese steht in Hessen im Vergleich zum Rest der Republik wenig Mittel bereit (4700 Euro pro Schüler vs. 5300 im Bundesschnitt 2001).“

Dabei steht Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich bei seinen Bildungsausgaben schon schlecht da, was bereits PISA 2000 bilanzierte und zuvor schon kein Geheimnis war. Nun bedeuten numerische Statistiken sowohl international wie innernational nicht alles, die Zahlen sagen per se nichts darüber aus, wofür das Geld ausgegeben wird. Gleichwohl bleibt es verwunderlich, wenn ein Spitzenland der Weltwirtschaft wie Deutschland, Weltmeister im Export – eine Stellung, die ja nur auf dem deutschen Know-how basieren kann –, in den Bildungs­ausgaben wie auch in den Bildungsergebnissen unterdurchschnittlich abschneidet.

Bei der mangelnden Förderung durch die Landesregierung in Hessen können sich Schul- und Hochschulbereich die Hände reichen: Die Bildungsausgaben in Relation zur den gesamten öffentlichen Ausgaben liegen unter dem Bundes­durchschnitt. Wie für die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, so gilt auch hier: Angesichts dessen, dass Hessen zu den wirtschafts­stärksten Bundesländern gehört, ein besonders skandalöses Ergebnis, wie ich meine. Entsprechend die Investitionen in die Sekundarstufe II, also die gymnasiale Oberstufe, zur Vorbereitung auf das Abitur: Die statistisch jedem Ober­stufen­eichensich benn Schul- und Hochschulbereich Hand in Handso gilt auch hier: schaft wie Deutschlandgebnis, wie ich meine.m Bundesschüler erteilten Unterrichtsstunden liegen unter dem Durchschnitt, und „die Schüler-Lehrer-Relation in der Oberstufe (13,7) zählt zu den schlechtesten in Deutschland und bleibt deutlich hinter den Spitzenländern zurück (Bayern: 11,6; Schleswig-Holstein: 11,7).“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Siehe Spiegel Online,

„Pisa-Alarm“, 22.11.2004

 

 

die tageszeitung, 24.11.2004, S.1

Die neue PISA-Studie: Publizieren geht vor Studieren...

Die in der üblichen Manier vorab veröffentlichen Essentials von PISA 2003 – welches Medium, ob TV oder Zeitung, widmet sich später noch den Details? – bestätigen im Wesentlichen die Ergebnisse von PISA 2000. Den Jubel gegen den Strom, den die ZEIT vom 25.11.2004 auf ihrer Titelseite angesichts minimaler Besserplatzierungen anstimmt, nach dem Motto „Deutschland nicht schlechter reden als es ist“, kann ich nicht teilen. Das Ergebnis von PISA 2 dürfte im Gegenteil das erste wirklich ernsthafte und ernstzunehmende Testergebnis sein, da ich vermute, dass bei PISA 1 viele Probanden den Test einfach nicht ernst genug genommen haben. Jetzt waren alle teilnehmenden Schüler entsprechend ein­gestimmt.

Als Hauptproblem zeigt sich erneut das Lese- und Textverständnis (beim Mathe-Test das Verständnis der Aufgabenstellung), erneut zeigen sich sozio­kulturelle Diskrepanzen in der Schülerschaft in Relation zu Einkommen, Bildungsstand und Herkunft der Eltern. Kein vergleichbares Industrieland prä­sentiert sich im Bildungsbereich so sehr als Klassengesellschaft wie Deutsch­land, in keinem gibt es eine vergleichbare Segregation von Migranten, zumal noch in der zweiten oder dritten Generation, denn in anderen Ländern (Großbritannien, Frankreich...) haben zumindest diese Nachkommen von Ein­wanderern automatisch die Staats­bürger­schaft des Aufnahmelandes bekommen, während dies in Deutschland erst seit kurzem möglich ist und sicherlich angesichts der weiter bestehenden kulturellen Kluft lange braucht um sich wirklich auf breiter Ebene durchzusetzen.

Doch sollte die „Ausländer-Thematik“ nicht vom Wesentlichen ablenken. Wie schon bei PISA 1, so gibt es auch jetzt eine Tendenz, das schlechte deutsche Abschneiden darauf zurückzuführen: "Die Ausländer- und Aussiedlerkinder ziehen den ganzen Schnitt runter, das ist seit Jahren eine Erkenntnis aller Kultusminister. Das ist kein Vorwurf an die Kinder, das ist einfach die Analyse." Dies meint der niedersächsische Bildungsminister Busemann (CDU), doch die Entlastung vom etwaigen Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit, die der Minister im letzten Satz prophylaktisch unternimmt, steht der Tatsache gegenüber, dass die „Analyse“ der mangelnden Deutschkenntnisse in der öffentlichen Diskussion ganz eindeutig mit einem Vorwurf der mangelnden Integration an die „Ausländer“ gekoppelt ist. In der Rede von den „Parallelgesellschaften“ „wird der Zusammenhang von Inte­gration und Segregation ausgeblendet“, kommentiert Christian Semler in der taz, denn angesichts einer jahrzehntelang nicht erfolgten weil nicht gewünschten Integration in die bundesrepublikanische Staatsbürgergesellschaft bestand für die Immigranten und deren Nachkommen die Integration gerade in der Integration in ihre Parallelgesellschaft.

Noch ein Blick auf Hessen: Interessanterweise ist Hessen das Bundesland, in dem laut Bildungsmonitor der INSM Schüler aus Migrantenfamilien den größten Bildungserfolg haben:

„Die Chancen für ausländische Jugendliche, die Hochschulreife zu erwerben, sind nirgendwo größer als in Hessen. Mit 24,9 Prozent war die Studien­berechtigten­quote unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich höher als im Bundes­durchschnitt 18,4 Prozent.“

Klargestellt werden muss hierzu freilich, dass sich dies die jetzige Landes­regierung nicht auf ihr Erfolgskonto schreiben kann, die heutigen Abiturienten und Hoch­schüler mit Migrationshintergrund wurden schon vor langer Zeit eingeschult.

28.11.2004

 

 

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>>OECD

>>PISA

Was wir schon immer über PISA wissen wollten und uns die Presse nicht zu sagen wagte... :

... wo Deutschland zur Spitzengruppe gehört !

 

Thema: Schulklima als Faktor für Schülerleistungen

Hier: Befragung der Schüler nach Beeinträchtigung des Lernens durch...

1. Störung des Unterrichts durch Schüler

2. Schikanieren von Schülern durch Mitschüler

 

 

Zu 1.:

51% der deutschen Schüler sehen eine Beeinträchtigung des Lernens durch Störung des Unterrichts durch Schüler.

Innerhalb Europas haben nur Norwegen (74%), Island (61%) und Spanien (59%) deutlich höhere Werte, ungefähr dieselben Werte haben die Schweiz (52%), Griechenland (52%), aber auch Schweden (50%). / OECD Æ 40%.

 

Zu 2:

24% der deutschen Schüler sehen eine Beeinträchtigung des Lernens durch Schikanieren von Schülern durch Mitschüler.

Innerhalb Europas befindet sich Deutschland zusammen mit Island (25%) und der Schweiz (24%) damit an der Spitze. / OECD Æ 15%.

 

Die Schülerdisziplin in Mathematik wird jedoch in Deutschland im Vergleich zum OECD-Mittelwert als überdurchschnittlich gut angegeben.

 

Gleichzeitig weist die Analyse der Befragung durch die OECD aus, dass die dem zugrunde liegende subjektive Toleranzgrenze in Deutschland weit höher liegt als im Durchschnitt.

 

Aus der PISA1-Studie (2000)

Lernen für die Welt von morgen – erste Ergebnisse von PISA 2003, S.245f.

www.oecd.org/PISA

W.G. Dez. 04

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Achtung! Intox!

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.9.2004, S.16.

taz, 22.9.2004, S.1,7

Spiegel Online, 22.9.2004

Spiegel Online, 18.5.2004

Zusammen­fassung der OECD-Studie beim Bundesministe­rium für Forschung und Bildung

Desinformationen über Lehrer/innen und den Lehrberuf

Das ABC der Vorurteile und das Einmaleins der Aufklärung darüber

 

 

Im Zuge der neuen Bildungsdebatte nach PISA gibt es eine wenn nicht in ihrer Absicht so doch in ihrer Wirkung systematische Desinformations­kampagne gegen den Lehrberuf und die ihn ausübenden Lehrer/innen in Deutschland. Dazu gehört schon die Art und Weise der Veröffentlichungen, wie sie sich aktuell bei der neuen OECD-Untersuchung „Bildung auf einen Blick 2004“ wiederholt: erst „Vorabinformationen“ in der Presse, offiziöse Halbwahrheiten und dann offizielle Zusammenfassungen und Bilanzen der Untersuchung im Vorfeld der eigentlichen Veröffentlichung ihrer nachprüfbaren (oder auch nicht nachprüfbaren...) Grundlage.  Bevor man die Details der Untersuchung überhaupt erst zu lesen bekommt, hat ihr Ergebnis bereits Stimmung gemacht. Dabei sind Statistiken schon beim besten Willen zur Objektivität erfahrungsgemäß alles andere als einfach zu interpretieren – auch für Experten und solche, die sich dafür halten, wie PISA auch gezeigt hat.

 

Gewiss brauchen wir den Blick nach draußen und den Blick von draußen auf uns selbst und internationale Vergleiche kommen um Statistiken nicht herum. Allerdings droht ein „zugleich wirklichkeitsblindes und sich selbst überschätzenden statistisches Bewusstsein“ (FAZ) vor lauter Zahlen die Welt nicht mehr zu sehen...

So „lag“ z.B. der tageszeitung „die OECD-Studie vor“ aber da stand angeblich nur drin, „was ohnehin schon alle wissen“, und so reiht sich auch diese sich als Alternative zum medialen mainstream verstehende Zeitung in den mainstream der Desinformation ein: „Lehrerstand: Alt, krank, frustriert – gut bezahlt“ sagt die taz, und konkurriert mit anderen in der Polemik, z.B. dem Spiegel: „Klatsche für deutsche Lehrer: Satt, überaltert, ausgebrannt“, „Zu alt, zu träge, überbezahlt“. – Da erinnert man sich an den Spruch von „den faulen Säcken“, der, wie wir wissen, auch von Gerhard Schröder „nie so gemeint“ war.

Doch worin besteht und wie funktioniert die Desinformation genau?

 

 

 

 

taz, 22.9.2004, S.1

 

Spiegel Online, 22.9.2004

1. Desinformation pur oder die Macht der Zahlen

Lehrer verdienen offenbar viel... zu viel. Um das Ressentiment zu schüren, genügt die Macht der Zahlen. Z.B. sind die jüngst in der taz veröffentlichten Zahlen über die Lehrerbesoldung schlicht falsch: angeblich fast 38.000 $ Jahresgehalt für eine/n angehende/n Grundschullehrer/in und mehr als 52.000 $ für eine/n Gymnasiallehrer/in nach 15 Jahren sind Beträge, die erheblich über der Realität liegen, v.a. im Rückblick für die Jahre 2001/2002, Bezugszeitraum für die Untersuchung der OECD (2001 stand der $ sogar noch über dem € !). Eine entsprechende Größe gibt auch der Spiegel an, kleingedruckt findet man dort immerhin neben der Tabelle den Hinweis „kaufkraftbereinigte Jahresgehälter“ – doch was bedeutet das eigentlich?

Dabei kann man doch die echten Zahlen einfach im Internet z.B. bei www.tresselt.de (mit Erläuterungen) oder gleich mit der entsprechenden Tabelle beim Beamtenbund www.dbb.de oder der GEW www.gew.de abrufen. Die GEW beteiligt sich mit anderen Gewerkschaften auch an der bundesweiten Umfrage zu den Tariflöhnen (www.lohnspiegel.de).

 

2. Die halbe Wahrheit ist keine Wahrheit

Zahlen und Realitäten im internationalen Vergleich (I)

Im internationalen Vergleich seien die deutschen Lehrer „hochbezahlt“ und folglich in Ermangelung der entsprechenden Gegenleistung „überbezahlt“.

Ja, deutsche Lehrer verdienen mehr als andere, aber sie arbeiten dafür auch mehr als die meisten anderen! Aus der in der Tat bereits seit langem bekannten Statistik, die der Spiegel noch einmal übernommen hat, ist abzulesen, dass lediglich in den USA, Großbritannien und den Niederlanden die abgeleistete „Unterrichtszeit“ höher ist, in allen anderen Ländern ist sie niedriger als in Deutschland.

In Frankreich z.B. haben die Lehrer (ich kenne etliche persönlich) eine geringere Unterrichtsverpflichtung und verdienen entsprechend weniger, wobei allerdings die Berechnungsgrundlage durch komplizierte Status­unterschiede der Lehrkräfte sowie durch eine andere Unterrichts­organisation erschwert wird. Gewiss gibt es eine Präsenzpflicht über den Unterricht hinaus im Rahmen des Ganztagsschulbetriebs, dafür aber auch oft einen freien Tag in der Woche... Schon die Länge der Unterrichtsstunde spielt eine große Rolle für den Vergleich: In Frankreich werden die Stunden zu 60 Minuten gerechnet, wobei ca. 5 Min. Pause zum Raumwechsel für die Klasse einkalkuliert sind. Rechnet man mit 55 Min., entsprechen also 18 französische Unterrichtsstunden ca. 22 unserer 45-Min.-Stunden, aber ich habe als Lehrer in Frankreich deswegen trotzdem nur 18 Stunden-Einheiten zu unterrichten und dadurch auch weniger Schüler zu betreuen.

Man kann also Aussagen über „gute“ oder „weniger gute“, gerechtfertigte oder ungerechtfertige  (denn das ist gemeint!) Bezahlung nicht ohne die geleistete Arbeit vergleichen und diese Berechnung ist hochkomplex. Deswegen sind pauschale Aussagen über die „gut“, „sehr gut“ verdienenden, „hoch“ oder „überbezahlten“ deutschen Lehrer im internationalen Vergleich nur halbe Wahrheiten und werden zur Desinformation, wenn nicht auch gleichzeitig die Arbeitszeiten und sonstigen Belastungen international verglichen werden, und zwar richtig verglichen! So werden z.B. auch viele Tätigkeiten außerhalb des eigentlichen Unterrichts in anderen Ländern durch zusätzliches Personal (z.B. Psychologen, Sozialarbeiter, mehr Verwaltungspersonal usw.) abgedeckt. Es ist bekannt, dass die Lehrer in den USA relativ schlecht verdienen und dafür relativ viel arbeiten müssen. Weniger krass aber immer noch spürbar ist die Differenz zu Großbritannien und den Niederlanden, das allein berechtigt jedoch nicht vom „überbezahlten“ deutschen Lehrer im internationalen Vergleich zwischen 25 Ländern zu sprechen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spiegel Online, 22.9.2004

3. Dollar, Euro, was habe ich davon?

Zahlen und Realitäten im internationalen Vergleich (II)

Noch einmal zum Einkommen: Auch wenn man die richtigen Zahlen zugrunde legt, bleibt für den internationalen Vergleich zunächst einmal die Schwankung im Wechselkurs zwischen Dollar und Euro zu berücksichtigten. Und dann: Was wird eigentlich verglichen? Grundgehalt, Gesamteinkommen, brutto oder netto, Einkommen von Ledigen, Verheirateten, die Familiensituation...? Was heißt „kaufkraftbereinigt“? Auch wenn sich hier ein gemeinsamer Nenner finden würde, den ich aus den früher schon veröffentlichten Statistiken nicht ersehen kann, auch dann blieben immer noch weitere Fragen zu klären. Zunächst einmal:

Warum nur die Lehrer vergleichen?

Deutsche Lehrer verdienen mehr als z.B. die französischen, das gilt aber auch für fast alle anderen Berufe. Warum wird dies bei den Lehrern als ungerecht empfunden?

Was bringt eigentlich ein Einkommensvergleich?

Innerhalb der Euro-Zone haben wir heute einen echten Zahlenvergleichsmaßstab, aber was sagen die Zahlen eigentlich aus? Wie jeder weiß, sagt das nominelle Einkommen noch nichts Definitives über den damit verbundenen Lebensstandard, nur über die Kaufkraft wird die Realität erfasst. Erst wenn klar wird, was man mit seinem Nominalgehalt überhaupt anfangen kann, kann ein seriöser internationaler Vergleich stattfinden, freilich gibt es da auch inner-nationale Diskrepanzen: Es macht einen Unterschied, ob man in Paris oder in der Provinz, in der Stadt oder auf dem Land lebt, in Deutschland ist das ähnlich. Die OECD-Zahlen sind als „kaufkraftbereinigte Jahresgehälter“ ausgegeben, was in der journalistischen Normalberichterstattung schon unter den Tisch fällt, allerdings muss man hierzu nach den Berechnungsgrundlagen und ihren Schlussfolgerungen fragen. Sollte es sich in Deutschland billiger leben als in den Nachbarländern? Kaum vorstellbar. Doch auf den Kontext kommt es tatsächlich an. Als jemand, der mit seiner Familie zehn Jahre in Frankreich lebte, kann ich zu solchen Vergleichen nur sagen: je nach Kontext ist weniger oft mehr...

 

4. Unverdiente Besserverdienende auch im deutschen Maßstab?

Der internationale und der innernationale Vergleich sind ja nur zwei Seiten einer Medaille, das Vorurteil (von Leuten, die es nicht besser wissen aber besser wissen könnten, wenn sie wollten) und die Desinformation (wider besseres Wissen) werfen ja seit langem den Lehrern vor zu viel zu verdienen und zu wenig zu arbeiten. Doch liegen deutsche Lehrer/innen ungefähr im statistischen Mittel der deutschen Einkommen im Angestelltenbereich, wie es das Statistische Bundesamt (www.destatis.de) ermittelt hat. Was heißt also „hoch“, „sehr gut“ oder „zuviel verdienen“...?

 

5. Gutbezahlter Halbtagsjob?

Und last but not least wird in keinem anderen vergleichbaren Beruf so viel gearbeitet wie im Lehrerberuf. Das überrascht jeden Außenstehenden und diese Aussage ist natürlich Gegenstand einer heftigen Kontroverse (siehe dazu auch weiter unten). Fakt ist jedoch: die aktuelle Unterrichts­verpflichtung in Hessen nach der letzten Erhöhung gleicht ungefähr der von vor 100 Jahren (Info von der GEW mit konkreten Vergleichszahlen). Wenn man jedoch berücksichtigt, wie hoch damals der durchschnittliche Aufwand z.B. pro Korrektur einer Klassenarbeit war und wie hoch er heute ist, kann man gewiss vermuten, dass die Gesamtarbeits­belastung bei gleicher Unterrichtsstundenzahl heute höher ist als vor 100 Jahren.

Unterrichtszeit und sonstige Arbeitszeit

Schließlich ist die Gesamtarbeitsbelastung überproportional zur Entwicklung der Unterrichtsverpflichtung gestiegen. Die alte Formel zur Berechnung der Vor- und Nachbereitungszeit für den Unterricht – die aktuelle Gleichsetzung mit der 42-Std.Woche der übrigen Beamten in Hessen legt den Faktor 1,6 (für Gymnasiallehrer) zu Grunde – entspricht nicht mehr der Realität. Wie schon erwähnt, wurde in früheren Zeiten weit weniger Aufwand für Korrekturen und andere Dinge betrieben. Durch das Gebot der Transparenz sollen die Leistungsanforderungen und Leistungsbewertungen gerechter werden. Dies ist natürlich gerechtfertigt, es bringt aber mehr Arbeit mit sich, die in keine Rechnung eingegangen ist. Die Verkürzung der Stundentafel und die Reduzierung der Stunden für die Hauptfächer auf z.T. nur 3 Stunden pro Woche führt dazu, dass man mehr Klassen und dadurch mehr Korrekturen hat als früher: hatte man bei 12 Stunden Deutsch oder Fremdsprache früher drei Klassen, so sind es heute rechnerisch in den betroffenen Jahrgangsstufen vier Klassen.

 

 

6. Der Mythos von 70 Tage Urlaub

Niemand hat so viele Ferien wie Lehrer... Ja, aber bei einer 6-Tage-Arbeitswoche. Auf meine Nachfrage hin, warum den Lehrern zusammen mit den anderen Beamten die Arbeitszeit erhöht wurde, obwohl sie anders als die anderen Beamten seinerzeit keine Reduzierung auf eine 38,5-Std.-Woche erfahren haben (sondern im Gegenteil schon damals eine Erhöhung), begründete der hessische Ministerpräsident in einem Brief an mich seine Entscheidung mit Berufung auf eine vergleichende Untersuchung über die Arbeitszeiten. Danach sind die Ferien außerhalb des regulären Jahresurlaubs für Lehrer Kompensationen für eine Arbeitswoche, in der weit mehr als in der vergleichbaren Normalarbeitswoche gearbeitet wird (Korrekturen am Wochenende usw.). Ganz simpel: mehr Arbeit in der Woche, dafür Entlastungen durch zusätzliche Freizeit, nämlich in den kleinen Ferien.

 

7. Der Beamten-Mythos

Lehrer widersetzen sich angeblich jeder Veränderung und sind damit ein wesentlicher Faktor für die Immobilität des Bildungssystems, dies läge auch an ihrem Beamtenstatus, so die Position der OECD-Bildungsexperten, eine von der Presse mit Handkuss aufgenommene und gleich noch weiter aufgebauschte Desinformation. Denn dieses vermeintliche Argument suggeriert ja, in anderen Ländern sei es anders. (Vergessen wir nicht: es geht um einen internationalen Vergleich!). Sind also die Lehrer in den Nachbarländern etwa keine Beamte? Gemeint ist damit ja: „unkündbar“. Aber sowohl als Angestellter im Öffentlichen Dienst in Deutschland als auch im Öffentlichen Dienst anderer Länder gibt es kein „hired and fired“-Prinzip (wohl nicht einmal in den USA), auch in anderen Ländern ist der Lehrberuf eine Lebensstellung und entlassen werden kann jemand nur bei schweren Versäumnissen seiner Pflichten. Der französische fonctionnaire unterscheidet sich vom deutschen Beamten eigentlich nur dadurch, dass er das Streikrecht hat (und auch gezielt Gebrauch davon macht); auch in Frankreich wurde der Immobilitätsvorwurf vor einigen Jahren lautstark von dem damaligen Bildungsminister Allègre in die Öffentlichkeit getragen, am Ende aber war er es, der er seinen Posten räumte. Gleichwohl gibt es in Frankreich keine vergleichbare Verunglimpfung der Lehrer wie hierzulande, die deutschen Lehrer haben das schwere Los, gleich zwei massive Ressentiments der Öffentlichkeit auf sich zu laden: erstens weil sie Lehrer sind und zweitens weil sie Beamte sind.

 

 

8. Der Renten-Mythos

Zur Neid-Kampagne gegen das angeblich hohe Einkommensniveau der Lehrer gehört das eingefleischte Vorurteil, die Beamten bezahlten keine Rentenbeiträge. Tatsache ist jedoch, dass diese Beiträge für die Beamtenpensionskasse sehr wohl Teil des Gehalts sind, dort aber nicht ausgewiesen, weil zu 100% vom Staat übernommen und gleich von vornherein zurückbehalten werden. Dies macht den finanziellen Unterschied zum Angestelltenstatus aus, dafür gibt es auch kein Streikrecht für Beamte. Die Bundesländer mussten also entsprechende Pensionsbeiträge zurücklegen und haben dies, wenn auch von Land zu Land unterschiedlich, nicht oder nur unzureichend getan. Nicht die Beamten zahlen also nichts ein, sondern der Staat nicht, die anzusparenden Rücklagen wurden und werden anderweitig ausgegeben, eine steigende Zahl von Pensionären nur noch aus dem laufenden Haushalt, d.h. aus den laufenden Einnahmen, bezahlt und damit in der Tat eine bedrohliche Lage geschaffen.

 

 

9. Der Mythos von der schlechten Lehrerausbildung

Natürlich kann und muss sich die Ausbildung zum Lehrberuf verbessern, d.h. der Bezug zur zukünftigen pädagogischen Praxis schon im Studium konkreter werden.

Internationaler Vergleich

Das heißt jedoch nicht, dass die deutsche Lehrerausbildung bisher nur schlecht gewesen und am schlechten Abschneiden bei PISA schuld wäre. Dies zu behaupten ist vielmehr nur eine der Varianten, die Lehrer generell dafür verantwortlich zu machen: schlecht ausgebildet, wenig interessiert an Weiterbildung, zu alt, zu faul, zu gut bezahlt... Im Gegensatz zu dieser interessegeleiteten deutschen Nabelschau genießt das deutsche Lehramts­referendariat international durchaus ein beträchtliches Ansehen, in Frankreich wurde es zu Beginn der 90er Jahre gerade zum Vorbild für eine entsprechende Reform der dortigen Lehrerausbildung im Sekundarbereich genommen. Lediglich für den Vor- und Grundschulbereich gab es eine spezielle fachlich-didaktsiche Ausbildung an einer höheren Schule. Im Sekundarbereich gab es bis dahin jedoch nur eine minimale Einführung in die pädagogische Praxis, die man sich im Wesentlichen durch einen „Sprung ins kalte Wasser“ der Praxis aneignete, indem man einfach als Lehrer vor die Klasse gestellt wurde. Dies dürfte ungefähr so auch in etlichen anderen Ländern der Fall gewesen sein. (Es wäre interessant zu wissen, wie dies in den angelsächsischen Ländern konkret lief und läuft und ich bin daher jedem Hinweis dankbar).

 

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W. Geiger

Okt. / Dez. 2004

 

 

 

Amok, Schule, Gesellschaft…

Aus leider aktuellem Anlass.

 

Alle Amokläufer konnten bislang ihre schreckliche Tat ausüben, weil sie leichten Zugang zu Waffen hatten. Dies ist eine so einfache Wahrheit, dass sie offenbar zu einfach ist um Politik und Gesellschaft zu entsprechenden Präventionsmaßnahmen zu veranlassen. Der Vater nimmt seinen Sohn schon möglichst früh mit auf den Schießstand des örtlichen Schützenvereins, vielleicht im Alter von 12 Jahren. So wie man in Begleitung auch unter 18 schon Auto fahren darf, so auch abgestuft nach unten schießen bis dahin, dass Papa dem Sohn auch schon mal das Gewehr rüber gibt, wenn’s noch nicht erlaubt ist. Zuhause darf der Junge ohnehin virtuell selbst ballern. Counterstrike & Co. sind mehr als nur die technisch moderne Variante von „Räuber und Gendarme“, „Cowboy und Indianer“. Virtuelle Spiele sind nicht einfach imaginäres Handeln, virtuell heißt soweit wie möglich realitätsgetreu, bis der Unterschied zwischen Virtualtät und Realität auf eine hauch­dünne Grenze zusammen­schrumpft. Entsprechend größer ist der Unterschied zu früherem Spielen. Die Verbindung zwischen realem und virtuellem Schießen ist ebenfalls eine Voraussetzung für die bekannten Fälle von Amoklauf – Schützenvereine und Medienverteidiger mögen da dagegenhalten, was sie wollen, es ist ein Faktor weil ein Faktum.

Aber dies erklärt nur die Möglichkeit und den Weg zum Amoklauf, es erklärt noch nicht den Grund dafür.

 

Ötaz Heitmeyer

Eine prägnante psychosoziologische Analyse der Hintergründe und einen intelligenten Kommentar zu den Medien­kommentaren dazu hat der Soziologe Wilhelm Heitmeyer für die tageszeitung am 19.3.2009 verfasst. Die gesellschaftlichen Zwänge für die Lebensgestaltung von Jugendlichen haben sich verstärkt und entsprechend die möglichen Versagensrisiken, aus vielen und auch ganz unterschiedlichen Gründen. „Die Gestaltbarkeit von Lebenswegen wird größer, aber der Gestaltungszwang nimmt zu“, schreibt Heitmeyer, doch den richtigen Weg zu finden fällt offenbar immer schwerer, dabei reduzieren sich die Möglichkeiten auf wenige Paradigmen: „Um in der Gesellschaft eine Stellung und Anerkennung zu erreichen […] gibt es für sie drei Möglichkeiten: über Leistungen in der Schule, über äußerliche Attraktivität oder über die Demonstration von Stärke. Das gesellschaftliche Leitbild besagt, dass eine anerkannte Stellung nur zu erreichen ist, wenn man andere unter "Kontrolle" hat und man sich von anderen unterscheidet. Wer nicht auffällt, wird nicht wahrgenommen, und wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts.“

 

 

 

Vgl. die jüngste Jugendstudie, FAZ vom 17.3.09

>>FAZ Jugendstudie

Nun soll die Schule „soziales Lernen“ vermitteln und genau zum Gegenteil dieser in der gesellschaftlichen Umwelt wahr­genommenen und erfahrenen Realität „erziehen“: Miteinander statt Gegeneinander, Solidarität, Teamwork… Wie soll das gehen? Die Schule kann diese Aufgabe nicht erfüllen, jedenfalls nicht bei den Schülern, die mit sich selbst und ihrem Bildungs- und Lebensweg Probleme haben, da gibt es allenfalls punktuelle Erfolge. Grundsätzlich findet im Klassenverband kein „soziales Lernen“ sondern immer mehr das Gegenteil davon statt, d.h. die Schlechteren lernen kaum von den Besseren, es bilden sich keine Solidaritäten sondern gruppenspezifische Hierarchien – meistens übrigens konträr zur Leistungshierarchie. Wer Anzeichen zum Alleingänger zeigt, wird nicht etwa unterstützt, sondern oft genug gemobbt. Mobbing ist eine drastisch zunehmende Realität in der Schule. Dabei können die Untersuchungen, die dies nachzuweisen glauben, auch nur an der Oberfläche analysieren, denn das Problem entzieht sich weitgehend der Beobachtung und Kontrolle, die Schule ist im Allgemeinen hilflos. Weder hat sie die Möglichkeiten Mobbing rechtzeitig und präzise zu erkennen, noch könnte sie, wenn das denn gelänge, adäquat darauf reagieren. Im Zuge der pädagogischen Revolution seit 1968 hat man die Schule „entstraft“ und alle disziplinarischen Maßnahmen, die auch nur von fern an Gewalt und Zwang aus früheren Zeiten erinnerten, verbannt, bis hin zum Begriff „Strafe“ selbst, den es gar nicht mehr gibt. Doch was ist an deren Stelle getreten? Sog. „pädagogische Maßnahmen“ erscheinen oft genug so lächerlich wie sie es auch sind, gegen „Ordnungsmaßnahmen“ können Eltern, denen ein Schuldbewusstsein für ihre Kinder ebenso fehlt wie diesen selbst, oft genug erfolgreich mit Beschwerden und Klagen vorgehen. Doch wo es keine „Strafe“ gibt, gibt es auch keine „Straftat“, der Siegeszug der Mobber wie auch die Verzweiflung der Mobbingopfer verdankt sich der faktischen Straflosigkeit der Tat. Nicht aus jedem Mobbingopfer wird ein Amokläufer, Gott sei Dank, aber wird die Analyse der Amokläufe und ihrer Gründe soweit reichen um auf diese ebenso viel weiter wie tiefer gehende Problemkonstellation zu stoßen?

 

W. Geiger, 21.3.2009