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Die Ermüdung der Demokratie geht weiter…

Nachträge zu meinen Büchern Die Ermüdung der Demokratie. Frankreich, Deutschland und Europa in der Krise (2017) sowie Weimar Bonn Berlin. Lehren aus der Geschichte (2019) aufgrund der aktuellen Entwicklung.

 

 

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Die Ermüdung der Demokratie

Wolfgang Geiger
Die Ermüdung der Demokratie
Frankreich, Deutschland und Europa in der Krise

396 Seiten
19,80 Euro

ISBN 978-3-941743-67-0
E-Book (PDF) 12,80

 

 

Weimar Bonn Berlin

Wolfgang Geiger
Weimar | Bonn | Berlin
Lehren aus der Geschichte

ISBN 9783941743793
296 Seiten, Broschur

Buchausgabe: 18,00
E-Book (PDF): 12,00

 

 

 

Die Einträge erfolgen chronologisch rückläufig (das Neueste zuoberst) im Sinne eines Blog

 

 

Übersicht

 

12.2.2020

Untergang auf Äquidistanz. Schockwellen aus Thüringen

 

11.2.2020

>> Lichtblick aus Österreich und Italien: Die Rechtspopulisten scheiden aus der Regierung aus

 

11.2.2020

>> Rückblick auf die Europawahl 2019

 

1.5.2019

>> Rechtsextreme in der neuen Regierung Estlands. Nach rechts alles offen?

 

27.4.2019

>> „Die Finnen“ in Finnland nach der Wahl. Wie die Bekämpfung des Rechtspopulismus misslingt

 

 

Weiteres folgt…

 

 

12.2.2020

Untergang auf Äquidistanz. Schockwellen aus Thüringen

Am 5.2.2020 wurde in Thüringen der FDP-Fraktionsvorsitzende Thomas Kemmerich im 3. Wahlgang mit den Stimmen von FDP, CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Eine ebenso fatale wie sinnlose Wahl, da aus dieser Abstimmung keine neue Regierungsmehrheit mit der AfD hevorgehen konnte, aber FDP, CDU und AfD hatten eines gemeinsam: Sie wollten die Wiederwahl Bodo Ramelows und damit eine vorläufige Fortsetzung der rot-rot-grünen Koalition als Minderheitsregierung verhindern. Die AfD sprach dies klar aus, FDP und CDU sprachen von einem „bürgerlichen Kandidaten“, der als Alternative aufgestellt werden sollte. Wäre dies ernst gemeint gewesen, hätten sie dies gleich im ersten Wahlgang tun können. Da aber die AfD einen eigenen Kandidaten präsentierte, musste man bis zum dritten Wahlgang warten, um die eine relative Mehrheit für Bodo Ramelow zu verhindern durch den Deal mit der AfD. Dass es Absprachen in diesem Sinne gab, lassen die Ungereimtheiten der öffentlichen Erklärungen von Seiten der FDP und CDU vermuten, dass es so war, da sind sich zahlreiche journalistische Beobachter aufgrund von deutlichen Indizien einig. 

Dass es dazu kam, ist jedoch nicht nur ein regionales „Ost-Problem“, sondern auch eines der beiden Parteiführungen von FDP und CDU in Berlin. Bei dem Wahlausgang Linke 31%, SPD 8,2%, Grüne 5,2% = 44,4% / CDU 21,7%, FDP 5% = 26,9% / AfD 23,4% kann es keine Mehrheit ohne Linke oder AfD geben, die gezwungene Entschuldigung nach der Wahl Kemmerichs, man setzte darauf, dass SPD und Grüne zur bürgerlichen Mitte stießen, ist so offensichtlich dumm-dreist wie aus der Not geboren: Auch dieses Bündnis, für das es nicht die geringste Chance gab  und gibt, hätte keine Mehrheit (=40,3%) und wäre, immer noch rein theoretisch, auf die Duldung durch AfD oder Linke angewiesen. Letzteres würde aber nie erfolgen.

Dabei hatte Mike Mohring, der Thüringer Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU nach der Landtagswahl am 27.10.2019 dafür plädiert, die Koalition unter Ramelow als Minderheitsregierung bedingt zu tolerieren, was hieß, Projekte zu unterstützen, die man inhaltlich akzeptieren konnte. Dann hätte diese Situation vermutlich bis zur nächsten Haushaltsdebatte gedauert, bei der es nicht mehr um ein bedingtes, sondern um ein grundsätzlich ja oder nein gegangen wäre, und der Landtag hätte dann Neuwahlen ausschreiben können. Aber Mohring wurde sofort von der CDU-Führung in Berlin, Kramp-Karrenbauer und Merkel, zurückgerufen. Außerdem gibt es einen starken Flügel in seiner Landespartei, die auf eine Öffnung nach rechts hin arbeitet. Diesen aber in Schach zu halten mit einer Alternative, die ihm von oben her verboten wurde, war schon der erste politische Genickschlag für ihn. Der zweite, dass er dann das Gegenteil, die Wahl Kemmerichs mit den AfD-Stimmen vertreten musste, und der dritte kam in der Krisensitzung der Fraktion am Donnerstag zusammen mit Anngret Kramp-Karrenbauer, was ihn dann den Fraktionsvorsitz kostete. Die Details kennen wir nicht, aber vermuten darf man: Nach einer stundenlangen Debatte mit AKK in der Fraktion kam das Aus für ihn, weil er wohl dafür war, ebenso wie AKK, nach dem angekündigten Rücktritt von Kemmerich und der Empörung, die durch die Medien tobte, schleunigst die Neuwahl des Landtag anzusteuern um das wieder gutzumachen, wenn es denn überhaupt gutzumachen war, die Fraktion sich aber dagegen entschied.

Das war wohl auch der ausschlaggebende Moment für die dann einige Tage später verkündete Entscheidung Annegret Kramp-Karrenbauers, sich von der Parteispitze zurückzuziehen. Die Thüringer Landtagsfraktion hatte ihre Warnung vor der Wahl Kemmerichs in den Wind geschlagen und sich dann auch ostentativ gegen die Bundesvorsitzende gestellt, die notwendige Konsequenz aus der politischen Katastrophe zu ziehen. Wen wundert’s: Wer möchte gerne sein Landtagsmandat verlieren bei einer Neuwahl, bei der die CDU nur weiter massiv einbrechen kann? Erst den Schaden verursachen und dann die Scherben nicht wegräumen…

Der Autoritätsverlust von AKK aber war massiv, wurde ihr jeden Tag von den Medien vorgehalten, konkret auf diese Causa bezogen jedoch zu Unrecht. Das Problem hätte auch jeden anderen Vorsitzenden so getroffen. Aber sie würde in dieser Partei, in der sie nur knapp die Mehrheit für den Parteivorsitz gewonnen hatte, nicht die Kanzlerkandidatur bekommen, wäre damit auch als Parteivorsitzende desavouiert und müsste den Parteivorsitz an den dann gewählten Kanzlerkandidaten abgeben. Dem kam sie dann lieber zuvor.

Dabei war sie aber mitschuldig an der Situation, die zur Wahl Kemmerichs geführt hattte, selbst wenn sie die CDU-Fraktion davor warnte. Die Losung von der Äquistanz zur AfD und zur Linken hieß nicht anderes, als jede vernünftige Entwicklung im thüringischen Landtag zu blockieren, es war eine Losung ohne Lösung. Doch, wie Cem Özdemir in der Talkshow bei Anne Will zu Recht sagte: Die CDU hält die Äquistanz so krampfhaft hoch, weil das Kooperationsverbot mit der AfD für den rechten Flügel, der damit nicht einverstanden ist, nur damit erkauft werden kann, dass es gleichzeitig ein Kooperationsverbot mit der Linken gibt. Diese Äquidistanz ist jedoch bei der Wahl Kemmerichs nach rechts aufgegeben worden, nicht nach links, und zwar nicht nur vom rechten Flügel, sondern von der ganzen Fraktion.

Die Äquidistanz ist Ausdruck einer Weimarisierung der Republik, weil die beiden stärker werdenden Ränder die politische Mitte erdrücken, so jedenfalls jetzt in Thüringen, wo die Linke aufgrund der Popularität ihres Ministerpräsidenten zugelegt hat, während sie sonst überall verliert. Waren in der Weimarer Republik aber sowohl KPF wie NSDAP antidemokratisch, so kann man dies für die Linke heute nicht analog feststellen. Gewiss, man muss sie ja nicht mögen und man kann sich durchaus fragen, angesichts der offen bekundeten Sympathie eines erheblichen Teils der Linken für das Regime von Maduro in Venezuela - von Kuba ganz zu schweigen -, was wohl passieren würde, hätte die Linke tatsächlich einmal die Macht in der Bundesrepublik. Aber das droht nicht und soweit sie an Regierungen auf Landesebene beteiligt ist oder sogar führt wie in Thüringen, ist sie in das demokratische System integriert, während die AfD und auch die Werte-Union glauben, dass sie in Wirklichkeit in einer gegen sie gerichteten Diktatur mit Medien- und Meinungszensur leben.

Wäre die CDU dem Vorschlag Mohrings zur bedingten Tolerierung der Minderheitsregierung Ramelow gefolgt, wäre der politische Schaden begrenzt gewesen, eine später folgende Neuwahl nicht unter einem so schlechten Stern gestanden wie jetzt, wo man sie auf Teufel komm raus verhindern will.

Das Drama ist noch lange nicht zu Ende… Die Frage Wie geht’s weiter? hat jetzt von Thüringen aus erst mal die Bundespartei ergriffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Cf. z.B. „Der eingefädelte Tabubruch von Erfurt“ >>tagespspiegel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Venezuela-Solidaritätsaktion >>tagesspiegel / >>die welt

11.2-2020

Lichtblick aus Österreich und Italien:

Die Rechtspopulisten scheiden aus der Regierung aus

Nachdem Kanzler Kurz in Österreich, um ohne Große Koalition mit der SPÖ an der Macht zu bleiben, eine Koalition mit der FPÖ besiegelt hatte und ihnen dabei beide sicherheitspolitisch relevanten Ministerien Inneres, Äußeres und Verteidigung zugestanden hatte. Dies führte zum Versuch einer politischen Einflussnahme auf die Geheimdienste durch die FPÖ und auch rief gleich zu Beginn die Kritik der deutschen Bundeskanzlerin hervor sowie den Boykott des österreichischen durch die anderen europäischen Geheimdienste, da Innenminister Kickl als der rechtsextremen Szene nahestehend galt.

Mit der dem FPÖ-Vizekanzler Christian Strache gestellten Falle auf Ibiza, wo er insgeheim dabei gefilmt wurde, wie er einer vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen Einfluss auf österreichische Medien (Kronen-Zeitung) gegen eine geheime Finanzierung der FPÖ Im bevorstehenden Wahlkampf versprach. Die Veröffentlichung im Mai 2019 führte zum Bruch des Regierungsbündnisses und nach Übergangsphase zur Neuwahl des Parlaments am 29.9.2019. Strache musste auch seine Parteiämter niederlegen und wurde im Dezember aus der FPÖ ausgeschlossen.

Wichtig für den ganzen Ablauf war auch das gelungene Krisenmanagement durch Bundeskanzler Van der Bellen, einem ehemaligen Grünen, der Kurz für die Übergangsphase die Kanzlerschaft entriss und eine Regierung auch Fachleuten ernannte.

Bei der Neuwahl des Parlaments konnte die ÖVP unter Sebastian Kurz ihre Spitzenposition auf 37,.46% ausbauen (+5,96), die FPÖ verlor ein Drittel ihrer Stimmen (-9,80 auf 16,17%), während die Grünen einen sensationellen Erfolg erzielten (+10,10 auf 13,90%). Dies eröffnete Sebastian Kurz eine neue Koalitionsmöglichkeit und überwand damit das alte Dilemma, wieder eine Große Koalition eingehen zu müssen, und so bildeten ÖVP und Grüne, die sich in Österreich nie wirklich etablieren konnten und von den Establishmentparteien abgelehnt wurden, Anfang Januar 2020 eine neue Regierungskoalition.

In Italien zerbrach am 5.9.2019 die Regierung aus Links- und Rechtspopulisten, Cinquestelle unter di Maio (32,68% bei der Parlamentswahl 2018) und Lega unter Salvini (17,34%), am offenen Machtanspruch des Lega-Führers Salvini, der sich gerne und ganz offen von seinen Anhängern als „capitano“ titulieren lässt, die am 1.6.2918 unter dem unabhängigen, den 5 Sterne nahestehenden Ministerpräsidenten Conte gebildet worden und damit noch nicht einmal anderthalb Jahre im Amt gewesen war. Innere Konflikte in der Regierung brachten Lega-Chef und Innenminister Matteo Salvini nach dem Höhenflug seiner Partei bei der Europawahl und in den Umfragen dazu, eine Neuwahl des Parlaments provozieren zu wollen in der Hoffnung, dann auf eine absolute Mehrheit zusteuern oder zuminsest das Verhältnis zwischen beiden Koalitionspartnern umkehrern zu können. Luigi di Maio verhindete dies jedoch durch eine neue Koalition mit den Sozialdemokraten (Partito Democratico, 16,74%)), die als frühere Regierungspartei der Hauptgegner der Fünfsterne gewesen waren. Die seit dem 5.9.2019 unter dem gleichen Ministerpräsidenten amtierende neue Regierung.

In beiden Fällen zeigt sich, dass der Siegeszug des Rechtspopulismus nicht unaufhaltbar und eine Einbindung in die Regierung ein Fehler ist, vielleicht aber auch ein heilsamer. In Italien ist dabei aber noch nicht das letzte Wort gesprochen, auch die neue Koalition steht von Anfang an unter starker Spannung, ständigem Streit und fast unlösbaren finanz- und wirtschaftspolitischen Problemen. Einen Koalitionsvertrag haben die beiden Partner bislang noch nicht zustandegebracht. Immerhin zeigten die Wahlen in einigen Regionen Italiens im Januar 2020, dass die Lega ihr Ziel, die traditionell linke Emilia-Romagna zu erobern, gescheitert ist und dort die alte Linke wieder im Rahmen eines Mitte-Links-Bündnisses Auftrieb bekam. Entscheidend dabei dürfte eine neue Bürgerbewegung gegen die Lega gewesen sein, die „Sardinen-Bewegung“. Auf der anderen Seite stürze die Fünfsternebewegung dort in die Bedeutungslosigkeit ab (3,5%), was in ihren Reihen die Frage aufwerfen dürfte, ob es für sie vorteilhaft war, mit den Sozialdemokraten in Rom die neue Koalition einzugehen.

 

 

 

Geheimndienste >>Die Presse / >>taz

Herbert Kickl >>Wikipedia

 

 

Ibiza-Affäre >>Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fast 100 Tage italienischer Streit >>Tagesschau

Regionalwahlen >>Tagesschau

 

11.2-2020

Rückblick auf die Europawahl 2019

Vom 23.-26. Mai 2019 fand die erste Europawahl nach dem Rechtsruck 2014 statt. DA die Briten erst noch einmal mitwählen durften und dann Ende Januar 2020 doch aus der EU und damit dem Europaparlament wieder ausgeschieden sind, ist der direkte Vergleich mit den Wahlergebnissen 2014 schwierig. Mit dem Brexit ist nicht nur ein Land ausgeschieden, das die Westeuropäer gerne weiterhin dabei gehabt hätten, im Parlament schied damit jedoch eine starke Fraktion von Euroskeptikern und Europagegnern aus. Noch bei der Verabschiedung rief Nigel Farage andere Länder wie Polen auf es Großbritannien gleich zu tun.

Bei der Wahl 2019 erlitten die Fraktionen der Christdemokraten und Konservativen sowie der Sozialdemokraten Verluste (-34 / -30), Erstere verloren knapp ein Sechstel, Letztere etwas mehr als ein Fünftel ihrer Sitze, beiden blieben aber die stärksten Fraktionen (182 / 154 Sitze). Erheblich hinzugewinnen konnten dagegen die Liberalen und Zentristen (+39 auf 108) sowie Grüne und Regionalisten (+23 auf 75), gerade für Letztere bedeutete das einen Vermehrung der Mandate um fast 50%. Damit die großen Fraktionen des proeuropäischen Lagers nur ganz leicht verloren (-2), wobei die Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán (13 Seitze) noch zur EVP mitgezählt wurde. Nationalisten und Rechtspopulisten sowie Konservative EU-Skeptiker erhielten unter dem Strich einen Auftrieb von 24 Mandaten, wobei Erstere gegenüber Letzteren zulegten (+37 auf 73 / -11 auf 41). Linke und Linkssozialisten, die größtenteils auch zu den Euroskeptikern gerechnet werden können, verloren  dagegen ca. ein Viertel (-11 auf 41). Die Zahl der franktionslosen Kleingruppierung nahm um +36 auf 56 zu, auch hier sind viele Euroskeptiker auszumachen. Insgesamt sind weiterhin ca. ein Viertel bis ein Drittel der Abgeordneten als euroskeptisch oder europafeindlich einzuordnen und die Wahl der neuen Kommission konnte nur durch ein breites Parteienbündnis von Christkonservativen bis Liberalen erfolgen.

Die nach dem Verhältniswahlrecht erfolgte Wahl in Frankreich - während die nationalen Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht laufen - brachte die Partei von Marine Le Pen, das Rassemblement National, mit 23,34% auf den ersten Platz, vor der Partei des Präsidenten Macron, La République en marche, mit 22,42%, die Grünen schnitten mit 13,43% außergewöhnoich gut ab. Die linken Antieuropäer von Mélenchon (La France insoumise) brachten nur 6,31%, da diese Wählerklientel offenbar wenig Interesse an der Europawahl hatte, die alten Parteien der konservativen Rechten (Les Républicains) und die Sozialisten, beide seit den Nationalwahlen (Präsidentschaft und Parlament) 2017 existenziell geschwächt, erreichten nur 8,43 und 6,19%. Zusammen mit Kleingruppierungen blieben die Antieuropäer rechts und links noch bei ca. einem Drittel der Stimmen.

Drastischer fiel der antieuropäische Impetus dagegen in Italien aus. Die Lega erreichte dort alleine 34,33% durch einen Zugewinn von 28,18%, auch zu Lasten der Forza Italia von Ex-Ministerpräsident Berlusconi (8,7)5 bei -12,40%), während die Ex-Neofaschisten Fratelli d’Italia 2,78% dazugewinnen konnten auf 6,48%. Die proeuropäische Linke (Partito Democratico) sank dagegen um 18,12% auf 22,69%. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die zu den Euroskeptikern gerechnet werden muss, erreichte 17,07% (Verlust von -4,09). Europaskritische oder -feindliche Rechts- und Linkspopulisten zusammengenommen erzielten damit ca. 60%, mit Forza Italia zusammen sogar fast zwei Drittel der Stimmen. Angesichts seiner kritischen Finanz-  und Wirtschaftslage bleibt Italien auch nach dem Ausscheiden der Lega aus der Regierung nach wie vor das Hauptproblem in Europa.

 

 

Cf. Wikipedia

 

1.5.2019

Rechtsextreme in der neuen Regierung Estlands. Nach rechts alles offen?

Bei der Neuwahl des estnischen Parlaments am 3.3.2019 konnte die dortige rechtsextreme Partei EKRE (Estnische Konservative Volkspartei) ihren Stimmenanteil auf 17,8% erhöhen und damit mehr als verdoppeln (+9,7) gegenüber der letzten Wahl. Diese Partei steht noch ein gutes Stück weiter rechts als ihr finnisches Pendant nach ihrem Rechtsruck (siehe unten). Neben ihr ist auch noch die rechtskonservative Isamaa („Vaterland“) mit 11,4% (-2,3) im estnischen Parlament vertreten, die im Europaparlament der EVP angehört und an früheren Regierungskoalitionen beteiligt war, jedoch bei den letzten Wahlen wie auch bei dieser wohl v.a. an die Radikalen rechts von ihr Stimmen verloren hat.

Nachdem eine Neuauflage der alten großen Koalition aus Zentrumspartei, Vaterland und Sozialdemokraten aufgrund der Stimmenverluste bei allen Koalitionären nicht mehr möglich war, galt lange die stärkste Fraktion, die liberale Reformpartei (28,9%) mit ihrer jungen Vorsitzenden Kaja Kallas, als Favoritin für die Bildung einer Regierung, doch die mögliche Koalition mit der Zentrumspartei kam nicht zustande. Die Zentrumspartei gilt im politischen Koordinatensystem Estlands durch ihre sozialpolitischen Positionen als Mitte-Links-Partei, verlor aber ihren linken Flügel an die Sozialdemokraten. In der Frage des Beitritts zur EU war die Partei 2003 gespalten, eine relative Mehrheit sprach sich dagegen aus. Im EU-Parlament wurde ihr Vertreter nach mehrfachen Anläufen in die Fraktion der Liberalen und Demokraten aufgenommen. In Estland selbst wird die Partei stark auch von der russischsprachigen Minderheit gewählt.

Zur „natürlichen“ Koalition zwischen Reform- und Zentrumspartei kam es offiziell nicht wegen programmatischen Unterschieden, die vergleichsweise gering erscheinen, nachdem früher schon weitere Bögen von Sozialdemokraten bis zur Vaterlandspartei geschlagen worden waren. So wollte die Zentrumspartei schon in der letzten Legislaturperiode, als sie durch ein Misstrauensvotum die von der Reformpartei geführte Koalition stürzte. den einheitlichen Steuersatz von 20% langsam durch eine Steuerprogression ersetzen, das ist ihr „linkes“ sozialpolitisches Profil. Entscheidend war aber wohl, dass die Zentrumspartei und Ministerpräsident Jüri Ratas persönlich die Führung nicht abgeben wollte und sich deswegen für ein Bündnis mit EKRE und Isamaa entschied, obwohl Ratas und das Zentrum, wie auch die Isamaa und alle anderen Parteien, zuvor eine Koalition mit ihr ausgeschlossen hatten. Und das aus gutem Grund, doch die Macht ist offenbar wichtiger.

Die EKRE ist nicht nur eine rechtspopulistische Partei - „es geht um Faschismus, nicht um Populismus“, schreibt Markus Schubert auf dem liberalen Portal LibMod. Der Protestschrei gegen die Regierungsbeteiligung der EKRE in Estland und Europa war groß, aber bislang folgenlos. Die Partei lässt ihre Veranstaltungen durch die Soldiers of Odin (SOO) bewachen (cf. den in Talinn lebenden Politikwissenschaftler Florian Hartleb), einer SA-ähnlichen „Bürgerwehr“, die, 2015 in Finnland gegründet, sich in den skandinavischen Ländern verbreitet und auch nach Estland gekommen ist. Die Straßenpatrouillen der SOO, die die Einwohner vor Migranten beschützen sollen, wurden vom letzten finnischen Ministerpräsidenten Sipilä bagatellisiert, haben aber in der Bevölkerung wohl weitgehend erst die Ängste erzeugt, mit der die SOO ihre Aktion rechtfertigen (vgl. taz vom 18.1.2016).

Die EKRE mit ihrem Vorsitzenden Mart Helme, jetzt Innenminister, und seinem Sohn Martin Helme, jetzt Finanzminister, vertritt nicht nur die ganze Bandbreite der neuen Rechten, vom Kampf gegen „Überfremdung“, gegen die EU, für die traditionelle Familie usw., sie übernimmt weitgehend unverblümt Sprache und Inhalte der „Identitären“ oder sogar der „White Supremacists“ aus den USA (vgl. Le Monde, 30.4.2019). 2015 torpedierte der EKRE-Parlamentsabgeordnete Jaak Madison, seit 2017 stellvertretender Parteivorsitzender, noch die Koalitionsverhandlungen mit der Reformpartei durch Lobeshymnen auf die Wirtschaftspolitik Nazi-Deutschlands, neben noch eindeutigeren Sympathieerklärungen für den Nationalsozialismus von anderen Parteimitgliedern, für die „weiße Rasse“ und die notwendige „nationale Reinigung“ Estlands (vgl. Baltikum-Blatt vom 16.10.2015). Inzwischen wird so etwas bagatellisiert oder schlich übergangen: Ruuben Kaalep, Gründer und Vorsitzender der Parteijugend „Blaues Erwachen“, bewegt sich ganz offen online und offline im Milieu von Identitären und Neonazis (auf entsprechende Links wird hier verzichtet) und soll auch im Internet den Holocaust geleugnet haben (laut SZ vom 29.4.2019, konnte ich nicht weiter nachprüfen). Martin Helme, heute Finanzminister, vertrat nach der Parlamentswahl in einem Interviews mit der Deutschen Welle die These von der „Umvolkung Europas“ durch die organisierte Einwanderung, sein Vater Mart Helme, heute Innenminister, drückte es noch drastischer aus: „Die Einheimischen werden durch Neger ersetzt“ (Deutsche Welle, Conflict Zone, 13.3.2019).

Die Beteiligung der EKRE an der Regierung ähnelt somit der der „Wahren Finnen“ 2015 in Finnland, nur sind die Minister der EKRE, die sie in die Regierung schicken darf, persönlich weitaus rechter positioniert, als dies damals bei den „Finnen“ der Fall war. Die Kluft zwischen radikaler Parteijugend oder -basis und gemäßigter Führung existiert bei der EKRE nicht in der Form wie damals bei den „Finnen“, was dort ja auch dann zur Spaltung der Partei und zur Eliminierung der Gemäßigten geführt hat (siehe unten). Gleichwohl versucht die Partei sich präsentabel für die Regierung zu zeigen. Dies könnte auch wie in Finnland dazu führen, dass in der Regierung zu viele Kompromisse geschlossen werden und die Parteibasis dagegen rebelliert.

Ihre Einbeziehung in die Koalition ist das Resultat der Uneinigkeit der Demokraten, die ihre Gemeinsamkeit gegenüber ihrer Rivalität vergessen, ihre kleinen Unterschiede zu großen machen, während die großen Unterschiede zu den Rechtsextremen um der Macht willen verkleinert werden. Angesichts der bevorstehenden Europawahl zeigt sich hier in einem kleinen Land ein leider nicht so kleiner Trend.

Und dies angesichts der Tatsache, dass es dafür in Estland praktisch keine „materiellen“ Ursachen gibt: Die Immigration ist minimal, der Bevölkerungsanteil von „Anderen“ (keine Europäer im geographischen Sinne) liegt bei 2,3%, die Zahl der im Rahmen der EU-Verteilung aufgenommenen Flüchtlinge beläuft sich auf 310 (bei 1,3 Mio Einwohnern). Dazu kommen noch einige Hundert Asylbewerber aus den Nachbarländern Russland, Weißrussland  und Ukraine. Der Anteil der russischen Bevölkerung aus sowjetischer Zeit beträgt dagegen noch knapp 25%. Vor allem geht es jedoch Estland relativ gut, es hat den Übergang von der sowjetischen Ära am besten gemeistert, gilt als Vorreiter der Moderne, v.a. durch die Digitalisierung, das Pro-Kopf-Einkommen ist höher als in den Nachbarländern, doch bedeuten die Nominalzahlen angesichts der Währungsumrechnung immer wenig im Hinblick auf die reale Situation. Kaufkraftbezogen liegt das BIP in Estland noch unterhalb des Mittelwerts im europäischen Vergleich (76/100), nährt sich diesem jedoch von Jahr zu Jahr an. Die Arbeitslosigkeit lag 2018 bei 4,2% und zwar ohne massive Arbeitsemigration von Esten in andere Länder.

Damit wird einmal mehr deutlich, was ich auch in meinem Buch an anderen Beispielen, v.a. innerhalb Deutschlands auf Ostdeutschland bezogen, verdeutlicht habe: Es ist falsch, die Rechtsentwicklung auf Faktoren wie „Wendeverlierer“ usw. zu reduzieren und damit zu erklären. Natürlich ist die gesamte gesellschaftliche Entwicklung seit der Auflösung der Sowjetunion und des Ostblock im weiteren Sinne durch Übergangsprobleme gekennzeichnet, an der auch die EU ihren Anteil an Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen hat.

In Estland tritt jedoch der kulturelle Faktor neonationalistischer Ideologie klar hervor, ohne materielle Grundlage im Land (Immigration etc.). Die Erklärung politischer Phänomene muss aus der Zwangsjacke der materialistischen Erklärung in der Spätfolge marxistisch inspirierter Soziologie befreit werden, nicht nur die materielle Basis bestimmt den kulturellen Überbau - sie tut es auch, aber nicht ausschließlich -,vielmehr gibt es eine relative Autonomie des Kulturellen, gerade in diesem Bereich. Natürlich gibt es auch dafür Gründe in Geschichte und Gesellschaft, aber keine eindimensionale Relation Dadurch…, dass im Sinne einer Verallgemeinerung Wenn…, dann… . Deswegen sind auch Hinweise darauf in Deutschland, dass eine „Weimarisierung“ der politischen Verhältnisse nicht stattfinden könne, weil es keine Wirtschaftskrise gebe, nicht stichhaltig (vgl. dazu mein Buch Weimar - Bonn - Berlin, 2019).

Dabei wird man sehen, wie sich in der neuen Koalition die von den Rechtsradikalen geforderte „ethnische Reinheit“ mit der Tatsache verträgt, dass die Zentrumspartei diesmal zwar weniger, aber immer noch stark auch von der russischen Minderheit gewählt wurde. Als Regierungskompromiss wurde der Verbleib in der EU ausgehandelt, das ähnelt stark der Konstellation in Finnland in den letzten fünf Jahren. Doch die Präsenz der EKRE in der Regierung wird noch einmal mehr der EU zu schaffen machen. Die europäischen Liberalen müssen sich überlegen, ob sie die Zentrumspartei so einfach in ihren Reihen behalten wollen, und nach Orbáns Fidesz muss sich die EVP nun auch mit der estnischen Vaterlandspartei in der Koalition befassen.

 

 

 

Ergebnis der Parlamentswahl 2019:

>Wikipedia

Konservative Volkspartei EKRE >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zentrum Liberale Moderne LibMod

)Markus Schubert: „Ein Leuchtturm erlischt“, 24.4.2019

Vgl. „Soldiers of Odin“ >Wikipedia

Reinhard Wolff: „Soldiers of Odin“ auf Patrouille, taz, 18.1.2016.

Florian Hartleb über die EKRE und die SOO:

Interview auf Deutsche Welle, 4.3.2019; Gastkommentar in der Wiener Zeitung: „EU-Gegner an der Macht“, 16.4.2019.

Anne-Françoise Hivert: „L‘extrême-droite entre au gouvernement en Estonie“, Le Monde, 30.4.2019.

„Estnische Rechtsnationalisten demonstrieren gegen Flüchtlinge », Das Balikum-Blatt, 16.10.2015.

Vgl. “Machthunger macht blind”, Das Baltikum-Blatt, 18.3.2019.

„Far-rigth party deputy: ‚We are the mainstream in Estonia‘“, Deutsche Welle, Conflict Zone-Guest: Martin Helme, 13.3.2019.

Kai Strittmatter: “Estnische Präsidentin bittet um ‘100 Tage ohne Hass’”, SZ, 29.4.2019.

Estland:

>Wikipedia

27.4.2019

„Die Finnen“ in Finnland nach der Wahl. Wie die Bekämpfung des Rechtspopulismus misslingt

Die Neuwahl des finnischen Parlaments am 14.4.2019 brachte eine Niederlage für die regierende Zentrumspartei unter Ministerpräsident Sipilä (13,8%, d.h. -7,3) und entsprechend einen relativen Sieg der Sozialdemokraten (17,7%, f.h. +1,2), die, wenn auch mit wenig Zugewinnen, Platz 1 erreichten. Die Nivellierung der Parteienlandschaft verstärkt sich weiter, so dass jetzt keine Partei mehr über 20% der Stimmen gewonnen hat. Die „Basisfinnen“ (PS) blieben mit 17,5% zweitstärkste Kraft, was in den Medien als spektakulär dargestellt wurde oder sogar falsch als „erstmalig“(Wikipedia), dabei hatten sie dies schon bei der letzten Wahl erreicht.

Allerdings hatte der Eintritt der „Finnen“ unter Timo Soini in die Regierung Sipilä einen Konflikt in der Partei und letztlich deren Spaltung gebracht, da die Regierungsbeteiligung von der Mehrheit der Parteibasis und auch von vielen Wählen als Aufgabe der eigenen Positionen bewertet wurde. Tatsächlich konnte man nicht viel von den europafeindlichen und nationalistischen „Finnen“ in der Regierung erkennen, obwohl sie dort wichtige Posten innehatten. Der Rückgang in den Meinungsumfragen und dann die Halbierung der Stimmen bei der Kommunalwahl 2017 führte zu einem Aufstand in der Partei gegen die Führung, wodurch der Repräsentant des rechtsextremen Flügels, Jussi Halla-aho, vom vorherigen Parteichef als „der größte öffentlicher Rassist des Landes“ bezeichnet, neuer Parteivorsitzender wurde. Dies erzwang den Austritt des moderaten Flügels und der Mehrheit der Parlamentsfraktion, die an der Regierungsbeteiligung festhielten und eine neue Partei gründeten, die aber bei der Wahl 2019 mit 1% aus der politischen Landschaft eliminiert wurde.

Dies ist eine Lektion für diejenigen Kommentatoren und Politiker international, die sich durch die Einbindung der Rechtspopulisten deren Zähmung erhoffen, das Gegenteil ist passiert, die Partei hat sich radikalisiert und damit die alte Stärke bei der Wahl wiedergefunden, während die Regierungspartei, die sie zähmen wollte, ein Drittel der Stimmen verloren hat.

Auch in Deutschland ging die Rechtsentwicklung der AfD nach der Abspaltung des Lucke-Flügels und nach dem Austritt von Petry  - sogar ohne Probleme mit Regierungskompromissen - bislang keineswegs zu Lasten der Wählerstimmen, im Gegenteil.

Mit Halla-aho hat die Partei einen Vorsitzenden gefunden, der am rechtesten Rand des Spektrums der erfolgreichen rechtspopulistischen Parteien zu verorten ist, wie auf den Seiten zu Finnland im Buch dargestellt.

Vor allem für die Zentrumspartei hat das Regierungsbündnis mit den „Finnen“ nichts gebracht, so dass sie jetzt mit 13,8% fast 4% hinter ihnen zurückgeblieben ist. Relativer Sieger sind die Sozialdemokraten, die seit langem wieder Chancen haben, die Regierung zu führen. Durch die Nivellierung der Wahlergebnisse und Streuung der Mandate auf neun Fraktionen im Parlament wird die Mehrheitsfindung allerdings schwierig werden.

Damit verstärkt sich auch der Trend, dass mit der Radikalisierung am rechten Rand eine Schwächung der Mitte einhergeht, nicht nur hinsichtlich des Stimmenverlustes nach rechts, sondern auch durch Uneinigkeit und Spaltungen in der Mitte selbst. In einer ähnlichen Gesamtkonstellation zeigt sich dies in den Niederlanden und in Dänemark. In Schweden konnten die Sozialdemokraten nach der letzten Wahl nur eine schwache Minderheitsregierung bilden.

Vgl. im Buch S. 76-82

Ergebnis der Parlamentswahl 2019: >Wikipedia

PS - „Die Finnen“ >Wikipedia

Jussi Halla-aho >Wikipedia

„Der größte Rassist des Landes“ >taz 11.6.2017

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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